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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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dessen, daß die Liebe Tristans und Jsoldens in jedem Moment der pba_283.002
Handlung gegen diese Gesellschaft in offenbarem und schwerem Unrecht pba_283.003
ist, sie nichtsdestoweniger durch die Kraft ihrer Wahrheit, durch ihre pba_283.004
Tiefe und ihren echten inneren Reichtum, gegenüber dem diese Gesellschaft pba_283.005
beherrschenden fiktiven Scheinbilde der Empfindung, einen unzerstörbaren pba_283.006
und von jedem gefühlten Rechtsanspruch behauptet, und daß pba_283.007
sie dennoch nach dem unerbittlichen Gesetz, von dessen ewiger und unverletzlicher pba_283.008
Geltung der Bestand aller menschlichen Lebensgestaltung abhängt, pba_283.009
zum Verderben führt. Hier zuerst ist das Naturrecht wahrer pba_283.010
Empfindungskraft zwar nicht als solches proklamiert, aber dieses Naturrecht pba_283.011
ist in Handlung vor Augen geführt und in Widerstreit gesetzt mit pba_283.012
der bestehenden Gesellschaftsordnung; wie alle stärksten und segensreichsten pba_283.013
Kräfte erweist sich auch diese, von der rechten Stelle und aus der ihr pba_283.014
bestimmten Bahn gebracht, als verhängnisvoll und zerstörend. Anlage pba_283.015
und Neigung führten den Dichter von "Tristan und Jsolde" aber dazu, pba_283.016
daß er bei weitem größeren Nachdruck auf die Darstellung der Kraft, pba_283.017
Tiefe und Wahrheit der Empfindung legt, die er durchweg mit den pba_283.018
schönsten und lebhaftesten Farben zu malen weiß, als auf die Vorbereitung pba_283.019
und Durchführung des tragischen Elementes der Handlung, auf pba_283.020
dem zuletzt die Einheit, Kraft und Würde der Dichtung beruht; pba_283.021
vielleicht hat das in diesem wesentlichen Punkte vorhandene Unvermögen pba_283.022
des Dichters es am meisten verschuldet, daß sein Epos unvollendet blieb. pba_283.023
Desto stärker und deutlicher war er sich seiner Kraft bewußt; er legt pba_283.024
davon auf dem Höhepunkte der Dichtung, im siebzehnten Abschnitt, wo pba_283.025
das Liebesgeständnis zwischen Tristan und Jsolde erfolgt ist, ein ausdrückliches pba_283.026
Zeugnis ab;1 ja man möchte aus dem Verlaufe dieser Stelle,

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Jch führe die schöne Stelle nach dem R. Bechsteinschen Texte (mit Hinzufügung pba_283.028
der Simrockschen Übersetzung) hier an, da sie in hohem Grade geeignet ist, darzuthun, pba_283.029
in wie absichtlicher Weise Gottfried seine Schilderung der echten Liebe der konventionellen pba_283.030
Entartung des Minnewesens entgegenstellte. Er fügt der Erzählung, wie nun Tristan pba_283.031
und Jsolde ihren Liebesbund besiegelt haben, das Folgende hinzu (s. XVII, V. 12204 ff.): pba_283.032
[Beginn Spaltensatz]
ich han von in zwein vil gedaht pba_283.033
und gedenke hiute und alle tage; pba_283.034
swenne ich liebe und senede klage pba_283.035
vür meiniu ougen breite pba_283.036
und ir gelegenheite pba_283.037
in meinem herzen ahte, pba_283.038
so wahsent mein trahte pba_283.039
und muot mein hergeselle, pba_283.040
als er in die wolken welle. pba_283.041
swenn' ich bedenke sunder
[Spaltenumbruch] pba_283.101
Über beide hab' ich viel gedacht pba_283.102
Und denke heut und allezeit: pba_283.103
Wenn ich Liebeslust und Leid pba_283.104
Mir will vor Augen breiten, pba_283.105
Jhr Wechseln und ihr Streiten pba_283.106
Jm Herzen zu betrachten, pba_283.107
So wächst mein sehnlich Trachten pba_283.108
Und Mut, mein Heergeselle, pba_283.109
Als ob er in den Himmel schwelle. pba_283.110
Wenn ich der Wunder denke,
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dessen, daß die Liebe Tristans und Jsoldens in jedem Moment der pba_283.002
Handlung gegen diese Gesellschaft in offenbarem und schwerem Unrecht pba_283.003
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Entartung des Minnewesens entgegenstellte. Er fügt der Erzählung, wie nun Tristan pba_283.031
und Jsolde ihren Liebesbund besiegelt haben, das Folgende hinzu (s. XVII, V. 12204 ff.): pba_283.032
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/301>, abgerufen am 25.11.2024.