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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Die, in sich eins und alles, jeden Teil pba_264.002
Mit sich belebet und vergeistiget. pba_264.003
Sophronius, der in dem Heidentum pba_264.004
Den Musen einst geopfert, wollte jetzt pba_264.005
Der Mutter Gottes auch ihr Bildnis weih'n. pba_264.006
Wie eine Biene flog er auf der Au' pba_264.007
Der Kunstgestalten; Pallas, Cynthia pba_264.008
Stand ihm vor Augen; Aphrodite sollt' pba_264.009
Jn einer Huldgestalt mit ihnen blüh'n. pba_264.010
Er überlegt' und schlief ermattet ein. pba_264.011
Da stand im Schlaf sie selbst vor Augen ihm, pba_264.012
Die Benedeite. "Sieh mich, wer ich bin," pba_264.013
Sprach sie, "und gib mir keinen fremden Reiz! pba_264.014
Nur Selbstvergessenheit ist meine Zier; pba_264.015
Nur Demut, Zucht und Einfalt ist mein Schmuck!" pba_264.016
Getroffen wie vom Pfeile wacht' er auf pba_264.017
Und sah fortan auch wachend sie, nur sie, pba_264.018
Wie der, der in die Sonne schaut, das Bild pba_264.019
Der Sonne mit sich träget. Öfters stand pba_264.020
(So dünkt es ihm) sie sichtbar vor ihm da, pba_264.021
Das Kind auf ihrem Arm und Engel ihr pba_264.022
Zur Seite. Als das Bild vollendet war, pba_264.023
Da trat ein Himmelsjüngling zu ihm hin pba_264.024
Und sprach: "Gegrüßet sei, Holdselige!" pba_264.025
Zum Bilde. "Viele Herzen werden dein pba_264.026
Sich am Altar erfreu'n und willig dir pba_264.027
Jhr Jnnres öffnen; denn was Andacht schuf, pba_264.028
Erwecket Andacht. Dir, o Künstler, hat pba_264.029
Die Selige sich selber offenbart."

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Sieht man von dem lehrhaft reflektierenden Eingange ab, so enthält pba_264.031
auch die Erzählung selbst nichts, als die trockene Berichterstattung pba_264.032
von dem Faktum einer andächtigen Entzückung, woran dann abermals pba_264.033
eine didaktische Schlußbemerkung geknüpft ist, daß, was Andacht geschaffen pba_264.034
hat, auch fähig ist, Andacht zu erwecken: was aber die Hauptsache pba_264.035
ist, die Nachahmung jener andächtigen Entzückung, so daß sie pba_264.036
in dem Hörer selbst erweckt wird, ist nicht einmal versucht.

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Die Mehrzahl der Herderschen Legenden ist durch die moralisierende pba_264.038
Lehrhaftigkeit der Erzählung schlechthin unerträglich, selbst die beiden pba_264.039
bekanntesten, in alle Sammlungen aufgenommenen, "Die wiedergefundenen pba_264.040
Söhne" und "Der gerettete Jüngling" nicht ausgenommen, von pba_264.041
denen höchstens die letztere durch einen etwas höheren Wärmegrad der pba_264.042
Stimmung sich vorteilhaft unterscheidet.

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Es muß auffallen, daß die Legende, die doch weiter nichts ist als pba_264.044
eine poetische Erzählung, welche ihren Stoff aus der religiös-kirchlichen,

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Sophronius, der in dem Heidentum pba_264.004
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Jhr Jnnres öffnen; denn was Andacht schuf, pba_264.028
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[264/0282] pba_264.001 Die, in sich eins und alles, jeden Teil pba_264.002 Mit sich belebet und vergeistiget. pba_264.003 Sophronius, der in dem Heidentum pba_264.004 Den Musen einst geopfert, wollte jetzt pba_264.005 Der Mutter Gottes auch ihr Bildnis weih'n. pba_264.006 Wie eine Biene flog er auf der Au' pba_264.007 Der Kunstgestalten; Pallas, Cynthia pba_264.008 Stand ihm vor Augen; Aphrodite sollt' pba_264.009 Jn einer Huldgestalt mit ihnen blüh'n. pba_264.010 Er überlegt' und schlief ermattet ein. pba_264.011 Da stand im Schlaf sie selbst vor Augen ihm, pba_264.012 Die Benedeite. „Sieh mich, wer ich bin,“ pba_264.013 Sprach sie, „und gib mir keinen fremden Reiz! pba_264.014 Nur Selbstvergessenheit ist meine Zier; pba_264.015 Nur Demut, Zucht und Einfalt ist mein Schmuck!“ pba_264.016 Getroffen wie vom Pfeile wacht' er auf pba_264.017 Und sah fortan auch wachend sie, nur sie, pba_264.018 Wie der, der in die Sonne schaut, das Bild pba_264.019 Der Sonne mit sich träget. Öfters stand pba_264.020 (So dünkt es ihm) sie sichtbar vor ihm da, pba_264.021 Das Kind auf ihrem Arm und Engel ihr pba_264.022 Zur Seite. Als das Bild vollendet war, pba_264.023 Da trat ein Himmelsjüngling zu ihm hin pba_264.024 Und sprach: „Gegrüßet sei, Holdselige!“ pba_264.025 Zum Bilde. „Viele Herzen werden dein pba_264.026 Sich am Altar erfreu'n und willig dir pba_264.027 Jhr Jnnres öffnen; denn was Andacht schuf, pba_264.028 Erwecket Andacht. Dir, o Künstler, hat pba_264.029 Die Selige sich selber offenbart.“ pba_264.030 Sieht man von dem lehrhaft reflektierenden Eingange ab, so enthält pba_264.031 auch die Erzählung selbst nichts, als die trockene Berichterstattung pba_264.032 von dem Faktum einer andächtigen Entzückung, woran dann abermals pba_264.033 eine didaktische Schlußbemerkung geknüpft ist, daß, was Andacht geschaffen pba_264.034 hat, auch fähig ist, Andacht zu erwecken: was aber die Hauptsache pba_264.035 ist, die Nachahmung jener andächtigen Entzückung, so daß sie pba_264.036 in dem Hörer selbst erweckt wird, ist nicht einmal versucht. pba_264.037 Die Mehrzahl der Herderschen Legenden ist durch die moralisierende pba_264.038 Lehrhaftigkeit der Erzählung schlechthin unerträglich, selbst die beiden pba_264.039 bekanntesten, in alle Sammlungen aufgenommenen, „Die wiedergefundenen pba_264.040 Söhne“ und „Der gerettete Jüngling“ nicht ausgenommen, von pba_264.041 denen höchstens die letztere durch einen etwas höheren Wärmegrad der pba_264.042 Stimmung sich vorteilhaft unterscheidet. pba_264.043 Es muß auffallen, daß die Legende, die doch weiter nichts ist als pba_264.044 eine poetische Erzählung, welche ihren Stoff aus der religiös-kirchlichen,

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/282>, abgerufen am 25.11.2024.