Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_249.001 pba_249.007 1 pba_249.011
Vgl. das von ihm der Übersetzung von Chassirons und Gellerts Abhandlungen pba_249.012 "Über das rührende oder weinerliche Lustspiel" hinzugefügte Nachwoert (L. M. IV, pba_249.013 S. 156 ff.), welches außer diesem negativen aber auch ein bedeutendes positives Jnteresse pba_249.014 einzuflößen geeignet ist. Es heißt dort: "Jch getraue mir zu behaupten, daß nur dieses pba_249.015 allein wahre Komödien sind, welche sowohl Tugenden als Laster, sowohl Anständigkeit pba_249.016 als Ungereimtheit schildern, weil sie eben durch diese Vermischung ihrem Originale, dem pba_249.017 menschlichen Leben, am nächsten kommen. Die Klugen und Thoren sind in der Welt pba_249.018 untermengt, und ob es gleich gewiß ist, daß die ersteren von den letzteren an Zahl pba_249.019 übertroffen werden, so ist doch eine Gesellschaft von lauter Thoren beinahe ebenso unwahrscheinlich pba_249.020 als eine Gesellschaft von lauter Klugen. Diese Erscheinung ahmt das pba_249.021 Lustspiel nach, und nur durch die Nachahmung derselben ist es fähig, dem Volke pba_249.022 nicht allein das, was es vermeiden muß, auch nicht allein das, was pba_249.023 es beobachten muß, sondern beides zugleich in einem Lichte vorzustellen, in pba_249.024 welchem das eine das andre erhebt. Man sieht leicht, daß man von diesem wahren pba_249.025 un deinigen Wege auf eine doppelte Art abweichen kann. Der einen Abweichung hat pba_249.026 man schon längst den Namen des Possenspiels gegeben, dessen charakteristische Eigenschaft pba_249.027 darinnen besteht, daß es nichts als Laster und Ungereimtheiten mit keinen andern pba_249.028 als solchen Zügen schildert, welche zum Lachen bewegen, es mag dieses Lachen nun ein pba_249.029 nützliches oder ein sinnloses Lachen sein. Edle Gesinnungen, ernsthafte Leidenschaften, pba_249.030 Stellungen, wo sich die schöne Natur in ihrer Stärke zeigen pba_249.031 kann, bleiben aus demselben ganz und gar weg; und wenn es außerdem pba_249.032 auch noch so regelmäßig ist, so wird es doch in den Augen strenger Kunstrichter dadurch pba_249.033 noch lange nicht zu einer Komödie. Worinne wird also die andre Abweichung pba_249.034 bestehen? Unfehlbar darinnen, wenn man nichts als Tugenden und anständige Sitten pba_249.035 mit keinen andern als solchen Zügen schildert, welche Bewunderung und Mitleid erwecken, pba_249.036 beides mag nun einen Einfluß auf die Besserung der Zuhörer pba_249.037 haben können oder nicht. Lebhafte Satire, lächerliche Ausschweifungen, Stellungen, pba_249.038 die den Narren in seiner Blöße zeigen, sind gänzlich aus einem solchen Stücke verbannt. pba_249.039 Und wie wird man ein solches Stück nennen? Jedermann wird mir zurufen: pba_249.040 das eben ist die weinerliche Komödie! Noch einmal also mit einem Worte: das Possenspiel pba_249.041 will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel willnur pba_249.042 rühren; die wahre Komödie will beides ... die wahre Komödie allein pba_249.043 ist für das Volk, und allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen pba_249.044 und folglich auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften. Was sie pba_249.001 pba_249.007 1 pba_249.011
Vgl. das von ihm der Übersetzung von Chassirons und Gellerts Abhandlungen pba_249.012 „Über das rührende oder weinerliche Lustspiel“ hinzugefügte Nachwoert (L. M. IV, pba_249.013 S. 156 ff.), welches außer diesem negativen aber auch ein bedeutendes positives Jnteresse pba_249.014 einzuflößen geeignet ist. Es heißt dort: „Jch getraue mir zu behaupten, daß nur dieses pba_249.015 allein wahre Komödien sind, welche sowohl Tugenden als Laster, sowohl Anständigkeit pba_249.016 als Ungereimtheit schildern, weil sie eben durch diese Vermischung ihrem Originale, dem pba_249.017 menschlichen Leben, am nächsten kommen. Die Klugen und Thoren sind in der Welt pba_249.018 untermengt, und ob es gleich gewiß ist, daß die ersteren von den letzteren an Zahl pba_249.019 übertroffen werden, so ist doch eine Gesellschaft von lauter Thoren beinahe ebenso unwahrscheinlich pba_249.020 als eine Gesellschaft von lauter Klugen. Diese Erscheinung ahmt das pba_249.021 Lustspiel nach, und nur durch die Nachahmung derselben ist es fähig, dem Volke pba_249.022 nicht allein das, was es vermeiden muß, auch nicht allein das, was pba_249.023 es beobachten muß, sondern beides zugleich in einem Lichte vorzustellen, in pba_249.024 welchem das eine das andre erhebt. Man sieht leicht, daß man von diesem wahren pba_249.025 un deinigen Wege auf eine doppelte Art abweichen kann. Der einen Abweichung hat pba_249.026 man schon längst den Namen des Possenspiels gegeben, dessen charakteristische Eigenschaft pba_249.027 darinnen besteht, daß es nichts als Laster und Ungereimtheiten mit keinen andern pba_249.028 als solchen Zügen schildert, welche zum Lachen bewegen, es mag dieses Lachen nun ein pba_249.029 nützliches oder ein sinnloses Lachen sein. Edle Gesinnungen, ernsthafte Leidenschaften, pba_249.030 Stellungen, wo sich die schöne Natur in ihrer Stärke zeigen pba_249.031 kann, bleiben aus demselben ganz und gar weg; und wenn es außerdem pba_249.032 auch noch so regelmäßig ist, so wird es doch in den Augen strenger Kunstrichter dadurch pba_249.033 noch lange nicht zu einer Komödie. Worinne wird also die andre Abweichung pba_249.034 bestehen? Unfehlbar darinnen, wenn man nichts als Tugenden und anständige Sitten pba_249.035 mit keinen andern als solchen Zügen schildert, welche Bewunderung und Mitleid erwecken, pba_249.036 beides mag nun einen Einfluß auf die Besserung der Zuhörer pba_249.037 haben können oder nicht. Lebhafte Satire, lächerliche Ausschweifungen, Stellungen, pba_249.038 die den Narren in seiner Blöße zeigen, sind gänzlich aus einem solchen Stücke verbannt. pba_249.039 Und wie wird man ein solches Stück nennen? Jedermann wird mir zurufen: pba_249.040 das eben ist die weinerliche Komödie! Noch einmal also mit einem Worte: das Possenspiel pba_249.041 will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel willnur pba_249.042 rühren; die wahre Komödie will beides ... die wahre Komödie allein pba_249.043 ist für das Volk, und allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen pba_249.044 und folglich auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften. 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die wie keine andere einer Anschauungsweise, welche in der Poesie vor pba_249.002
allem das Lehrhafte und moralisch Bessernde suchte, entgegenkam: daher pba_249.003
die große Vorliebe der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, die pba_249.004
in einzelnen Ausläufern noch bis gegen das Ende desselben sich erstreckte, pba_249.005
für die dramatische und für alle Arten der epischen Darstellung des pba_249.006
Komischen.
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Auch Lessings Theorie ist noch in dieser moralischen Betrachtung pba_249.008
des Komischen befangen, nicht allein in seinen Jugendschriften, wo er pba_249.009
im ersten Stück der theatralischen Bibliothek diese Ansicht des breiteren pba_249.010
ausführt, 1 sondern auch in der Dramaturgie, wo an den wenigen
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Vgl. das von ihm der Übersetzung von Chassirons und Gellerts Abhandlungen pba_249.012
„Über das rührende oder weinerliche Lustspiel“ hinzugefügte Nachwoert (L. M. IV, pba_249.013
S. 156 ff.), welches außer diesem negativen aber auch ein bedeutendes positives Jnteresse pba_249.014
einzuflößen geeignet ist. Es heißt dort: „Jch getraue mir zu behaupten, daß nur dieses pba_249.015
allein wahre Komödien sind, welche sowohl Tugenden als Laster, sowohl Anständigkeit pba_249.016
als Ungereimtheit schildern, weil sie eben durch diese Vermischung ihrem Originale, dem pba_249.017
menschlichen Leben, am nächsten kommen. Die Klugen und Thoren sind in der Welt pba_249.018
untermengt, und ob es gleich gewiß ist, daß die ersteren von den letzteren an Zahl pba_249.019
übertroffen werden, so ist doch eine Gesellschaft von lauter Thoren beinahe ebenso unwahrscheinlich pba_249.020
als eine Gesellschaft von lauter Klugen. Diese Erscheinung ahmt das pba_249.021
Lustspiel nach, und nur durch die Nachahmung derselben ist es fähig, dem Volke pba_249.022
nicht allein das, was es vermeiden muß, auch nicht allein das, was pba_249.023
es beobachten muß, sondern beides zugleich in einem Lichte vorzustellen, in pba_249.024
welchem das eine das andre erhebt. Man sieht leicht, daß man von diesem wahren pba_249.025
un deinigen Wege auf eine doppelte Art abweichen kann. Der einen Abweichung hat pba_249.026
man schon längst den Namen des Possenspiels gegeben, dessen charakteristische Eigenschaft pba_249.027
darinnen besteht, daß es nichts als Laster und Ungereimtheiten mit keinen andern pba_249.028
als solchen Zügen schildert, welche zum Lachen bewegen, es mag dieses Lachen nun ein pba_249.029
nützliches oder ein sinnloses Lachen sein. Edle Gesinnungen, ernsthafte Leidenschaften, pba_249.030
Stellungen, wo sich die schöne Natur in ihrer Stärke zeigen pba_249.031
kann, bleiben aus demselben ganz und gar weg; und wenn es außerdem pba_249.032
auch noch so regelmäßig ist, so wird es doch in den Augen strenger Kunstrichter dadurch pba_249.033
noch lange nicht zu einer Komödie. Worinne wird also die andre Abweichung pba_249.034
bestehen? Unfehlbar darinnen, wenn man nichts als Tugenden und anständige Sitten pba_249.035
mit keinen andern als solchen Zügen schildert, welche Bewunderung und Mitleid erwecken, pba_249.036
beides mag nun einen Einfluß auf die Besserung der Zuhörer pba_249.037
haben können oder nicht. Lebhafte Satire, lächerliche Ausschweifungen, Stellungen, pba_249.038
die den Narren in seiner Blöße zeigen, sind gänzlich aus einem solchen Stücke verbannt. pba_249.039
Und wie wird man ein solches Stück nennen? Jedermann wird mir zurufen: pba_249.040
das eben ist die weinerliche Komödie! Noch einmal also mit einem Worte: das Possenspiel pba_249.041
will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel willnur pba_249.042
rühren; die wahre Komödie will beides ... die wahre Komödie allein pba_249.043
ist für das Volk, und allein fähig einen allgemeinen Beifall zu erlangen pba_249.044
und folglich auch einen allgemeinen Nutzen zu stiften. Was sie
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Zitationshilfe: | Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/267>, abgerufen am 16.02.2025. |