pba_215.001 sich unversiegbare Adern noch weithin von ihm aus und reichen bis in pba_215.002 die Epochen hellster Aufklärung. Der Dichter mag unbekümmert um pba_215.003 das bessere Wissen seiner Zeit aus ihnen schöpfen. Und verwehrt es pba_215.004 ihm die Natur seines Werkes, im Ernste diese Welt des Wunders sich pba_215.005 dienstbar zu machen, so bleibt ihm noch ihr ganzer, unerschöpflicher pba_215.006 Reichtum, um im Bilde davon Gebrauch zu machen und so dennoch pba_215.007 ihre Kraft zu erborgen.
pba_215.008 Endlich bleibt ein, freilich eng umfriedetes Gebiet, auf dem das pba_215.009 Wunder nicht allein in immerwährender Geltung bleibt, ja die Oberherrschaft pba_215.010 führt, sondern in welchem die Phantasie immerfort die Freiheit pba_215.011 behält, es aufs Neue hervorzubringen, das Alte neu zu gestalten und pba_215.012 mit tausendfältiger Erfindung es zu bereichern: das Märchen, welches pba_215.013 mit herzlicher Freude und unzerstörbarer Pietät die alten Sagengebilde pba_215.014 ihrem Kerne nach festhält, wenn ihre Wurzeln im Glauben sich lockern pba_215.015 und endlich ganz verdorren. Eben deshalb scheidet im Märchen die pba_215.016 Realität aus der Verbindung gänzlich aus und es bleibt ihm nur das pba_215.017 Spiel mit den Gebilden der Phantasie: aber ein Spiel, welches den pba_215.018 Ernst der Wahrheit der inneren Handlung darum doch nimmermehr aufgibt; pba_215.019 damit würde auch die Märchenphantasie den Boden verlassen, dem pba_215.020 sie ihren Ursprung und ihr Wachstum verdankt, und das Recht aufgeben, pba_215.021 durch welches sie existiert. Bei dem echten Volksmärchen ist das pba_215.022 undenkbar, für das Kunstmärchen liegt in diesem Umstande das Kriterium pba_215.023 für das Wohlgelungene wie für die Entartung. Beiden aber, pba_215.024 dem Volksmärchen wie dem Kunstmärchen, gemeinsam ist die Möglichkeit, pba_215.025 ja die Nötigung, bei der völligen Scheidung von den Bedingungen der pba_215.026 äußeren Wirklichkeit, auf dem allerkürzesten Wege ihre innere Handlung pba_215.027 zu ihrem Ende zu führen und damit dem inneren Sinn und der Bedeutung pba_215.028 derselben die größte Evidenz und Wirksamkeit zu verleihen; pba_215.029 genauer gesagt: durch die Nachahmung der inneren Handlung, die dabei pba_215.030 in Thätigkeit kommenden Kräfte der Empfindung, Gesinnung und des pba_215.031 Urteils am unmittelbarsten, stärksten und sichersten zu erregen. Deshalb pba_215.032 kann dieses Spiel denen, welche den der Wirklichkeit sich anschließenden pba_215.033 Nachahmungen gar nicht oder doch nur schwerer zu folgen vermögen, die pba_215.034 gesamte übrige Poesie ersetzen, den Kindern und dem unkultivierten Teil pba_215.035 des Volkes, während sie auch für den Hochgebildetsten von ihrem Reize pba_215.036 nichts verlieren.
pba_215.037 Eine ähnliche, und doch wieder verschiedene Stellung wie das Märchen pba_215.038 nimmt in der epischen Poesie die Tierfabel ein, für deren Definition pba_215.039 es noch übrig bleibt aus dem Vorstehenden die Konsequenzen zu ziehen.
pba_215.040 Sie entstammt wie jenes der Sage: ähnlich wie aus der mythischen
pba_215.001 sich unversiegbare Adern noch weithin von ihm aus und reichen bis in pba_215.002 die Epochen hellster Aufklärung. Der Dichter mag unbekümmert um pba_215.003 das bessere Wissen seiner Zeit aus ihnen schöpfen. Und verwehrt es pba_215.004 ihm die Natur seines Werkes, im Ernste diese Welt des Wunders sich pba_215.005 dienstbar zu machen, so bleibt ihm noch ihr ganzer, unerschöpflicher pba_215.006 Reichtum, um im Bilde davon Gebrauch zu machen und so dennoch pba_215.007 ihre Kraft zu erborgen.
pba_215.008 Endlich bleibt ein, freilich eng umfriedetes Gebiet, auf dem das pba_215.009 Wunder nicht allein in immerwährender Geltung bleibt, ja die Oberherrschaft pba_215.010 führt, sondern in welchem die Phantasie immerfort die Freiheit pba_215.011 behält, es aufs Neue hervorzubringen, das Alte neu zu gestalten und pba_215.012 mit tausendfältiger Erfindung es zu bereichern: das Märchen, welches pba_215.013 mit herzlicher Freude und unzerstörbarer Pietät die alten Sagengebilde pba_215.014 ihrem Kerne nach festhält, wenn ihre Wurzeln im Glauben sich lockern pba_215.015 und endlich ganz verdorren. Eben deshalb scheidet im Märchen die pba_215.016 Realität aus der Verbindung gänzlich aus und es bleibt ihm nur das pba_215.017 Spiel mit den Gebilden der Phantasie: aber ein Spiel, welches den pba_215.018 Ernst der Wahrheit der inneren Handlung darum doch nimmermehr aufgibt; pba_215.019 damit würde auch die Märchenphantasie den Boden verlassen, dem pba_215.020 sie ihren Ursprung und ihr Wachstum verdankt, und das Recht aufgeben, pba_215.021 durch welches sie existiert. Bei dem echten Volksmärchen ist das pba_215.022 undenkbar, für das Kunstmärchen liegt in diesem Umstande das Kriterium pba_215.023 für das Wohlgelungene wie für die Entartung. Beiden aber, pba_215.024 dem Volksmärchen wie dem Kunstmärchen, gemeinsam ist die Möglichkeit, pba_215.025 ja die Nötigung, bei der völligen Scheidung von den Bedingungen der pba_215.026 äußeren Wirklichkeit, auf dem allerkürzesten Wege ihre innere Handlung pba_215.027 zu ihrem Ende zu führen und damit dem inneren Sinn und der Bedeutung pba_215.028 derselben die größte Evidenz und Wirksamkeit zu verleihen; pba_215.029 genauer gesagt: durch die Nachahmung der inneren Handlung, die dabei pba_215.030 in Thätigkeit kommenden Kräfte der Empfindung, Gesinnung und des pba_215.031 Urteils am unmittelbarsten, stärksten und sichersten zu erregen. Deshalb pba_215.032 kann dieses Spiel denen, welche den der Wirklichkeit sich anschließenden pba_215.033 Nachahmungen gar nicht oder doch nur schwerer zu folgen vermögen, die pba_215.034 gesamte übrige Poesie ersetzen, den Kindern und dem unkultivierten Teil pba_215.035 des Volkes, während sie auch für den Hochgebildetsten von ihrem Reize pba_215.036 nichts verlieren.
pba_215.037 Eine ähnliche, und doch wieder verschiedene Stellung wie das Märchen pba_215.038 nimmt in der epischen Poesie die Tierfabel ein, für deren Definition pba_215.039 es noch übrig bleibt aus dem Vorstehenden die Konsequenzen zu ziehen.
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sich unversiegbare Adern noch weithin von ihm aus und reichen bis in pba_215.002
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/233>, abgerufen am 24.11.2024.
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