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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Hiermit ist die letzte und zugleich die für den Gegenstand bedeutsamste pba_205.002
Frage gestellt.

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Es konnte nach dem Gange der Untersuchung bisher nur von der pba_205.004
Nachahmung einer einzelnen inneren Handlung die Rede sein; pba_205.005
aber ein wie kleiner Teil der Poesie, die es mit der Nachahmung von pba_205.006
Handlung zu thun hat, ist darin beschlossen! Jn der That ist einzig pba_205.007
und allein die Fabel in diesen engen Kreis eingeschränkt; Mythus, pba_205.008
Sage und Märchen können zwar in manchen Fällen sich gleichfalls pba_205.009
damit begnügen, obwohl sie meistens einer viel weitern Ausdehnung pba_205.010
bedürfen werden: aber wie unendlich weit müssen die großen epischen pba_205.011
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Es scheint, als müßte hier die ganze Theorie von der Nachahmung pba_205.013
der "Handlung" in dem entwickelten engen Sinne zu nichte werden. pba_205.014
Ohne alle Frage ist hier überall ein ganzer Komplex solcher Handlungen pba_205.015
der Gegenstand der Nachahmung, und zwar in weit ausgedehnter Verschlingung pba_205.016
mit gegebenen Zuständen und äußeren Begebenheiten. Diese pba_205.017
Verschlingung scheint aber gar nicht denkbar, wenn man die Handlung so pba_205.018
scharf, wie es im Obigen geschehen, von ihrer inneren, geistigen Seite pba_205.019
gefaßt, für den Gegenstand der epischen und dramatischen Dichtung erklärt! pba_205.020
Eben durch ihre äußere Gestaltung wirken ja doch die Handlungen pba_205.021
aufeinander und verwickeln und lösen, hemmen und fördern sich pba_205.022
gegenseitig; und vollends, wo bleibt das Element des ganz von außen pba_205.023
hineinwirkenden, von aller bewußten Willensentscheidung völlig unabhängigen pba_205.024
Zufalls, dieses in den epischen und dramatischen Geschehnissen pba_205.025
so hochbedeutenden und ganz unentbehrlichen Faktors?

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Gerade diese Einwürfe, alle zusammengenommen, führen zum Ziel!

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Aus der ungeheuren Flut der Handlungen und Ereignisse greift pba_205.028
die epische, die dramatische Nachahmung einen Komplex heraus und stellt pba_205.029
ihn als eine einheitliche Handlung dar. Nach welchem Gesetz pba_205.030
wird diese Einheit erkannt und beurteilt?
Niemand hat dieses pba_205.031
Gesetz sicherer erkennen können als es von jeher in allen Schöpfungen pba_205.032
des dichtenden Volksgeistes enthalten war. Nicht in dem wirklichen Zusammenhange pba_205.033
der Ereignisse und Thaten ist es gegeben: er diktiert der pba_205.034
Geschichte ihre Gesetze, die Poesie hat ein anders, um dessentwillen pba_205.035
Aristoteles sie "philosophischer" nannte als jene. Hören wir zur Bestätigung pba_205.036
des Gesagten, wie einer der größten unsrer deutschen Forscher pba_205.037
über den Gegenstand sich äußert:1 "Die Poesie ist das erste und ein-

1 pba_205.038
Wilhelm Grimm in einer Rede: "Über Geschichte und Poesie"; siehe pba_205.039
Kl. Schrft. Bd. I, S. 497 ff.

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Hiermit ist die letzte und zugleich die für den Gegenstand bedeutsamste pba_205.002
Frage gestellt.

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Es konnte nach dem Gange der Untersuchung bisher nur von der pba_205.004
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aber ein wie kleiner Teil der Poesie, die es mit der Nachahmung von pba_205.006
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Gattungen, muß das Drama darüber hinausgehen!

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Es scheint, als müßte hier die ganze Theorie von der Nachahmung pba_205.013
der „Handlung“ in dem entwickelten engen Sinne zu nichte werden. pba_205.014
Ohne alle Frage ist hier überall ein ganzer Komplex solcher Handlungen pba_205.015
der Gegenstand der Nachahmung, und zwar in weit ausgedehnter Verschlingung pba_205.016
mit gegebenen Zuständen und äußeren Begebenheiten. Diese pba_205.017
Verschlingung scheint aber gar nicht denkbar, wenn man die Handlung so pba_205.018
scharf, wie es im Obigen geschehen, von ihrer inneren, geistigen Seite pba_205.019
gefaßt, für den Gegenstand der epischen und dramatischen Dichtung erklärt! pba_205.020
Eben durch ihre äußere Gestaltung wirken ja doch die Handlungen pba_205.021
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so hochbedeutenden und ganz unentbehrlichen Faktors?

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Gerade diese Einwürfe, alle zusammengenommen, führen zum Ziel!

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Aus der ungeheuren Flut der Handlungen und Ereignisse greift pba_205.028
die epische, die dramatische Nachahmung einen Komplex heraus und stellt pba_205.029
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wird diese Einheit erkannt und beurteilt?
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des dichtenden Volksgeistes enthalten war. Nicht in dem wirklichen Zusammenhange pba_205.033
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[205/0223] pba_205.001 Hiermit ist die letzte und zugleich die für den Gegenstand bedeutsamste pba_205.002 Frage gestellt. pba_205.003 Es konnte nach dem Gange der Untersuchung bisher nur von der pba_205.004 Nachahmung einer einzelnen inneren Handlung die Rede sein; pba_205.005 aber ein wie kleiner Teil der Poesie, die es mit der Nachahmung von pba_205.006 Handlung zu thun hat, ist darin beschlossen! Jn der That ist einzig pba_205.007 und allein die Fabel in diesen engen Kreis eingeschränkt; Mythus, pba_205.008 Sage und Märchen können zwar in manchen Fällen sich gleichfalls pba_205.009 damit begnügen, obwohl sie meistens einer viel weitern Ausdehnung pba_205.010 bedürfen werden: aber wie unendlich weit müssen die großen epischen pba_205.011 Gattungen, muß das Drama darüber hinausgehen! pba_205.012 Es scheint, als müßte hier die ganze Theorie von der Nachahmung pba_205.013 der „Handlung“ in dem entwickelten engen Sinne zu nichte werden. pba_205.014 Ohne alle Frage ist hier überall ein ganzer Komplex solcher Handlungen pba_205.015 der Gegenstand der Nachahmung, und zwar in weit ausgedehnter Verschlingung pba_205.016 mit gegebenen Zuständen und äußeren Begebenheiten. Diese pba_205.017 Verschlingung scheint aber gar nicht denkbar, wenn man die Handlung so pba_205.018 scharf, wie es im Obigen geschehen, von ihrer inneren, geistigen Seite pba_205.019 gefaßt, für den Gegenstand der epischen und dramatischen Dichtung erklärt! pba_205.020 Eben durch ihre äußere Gestaltung wirken ja doch die Handlungen pba_205.021 aufeinander und verwickeln und lösen, hemmen und fördern sich pba_205.022 gegenseitig; und vollends, wo bleibt das Element des ganz von außen pba_205.023 hineinwirkenden, von aller bewußten Willensentscheidung völlig unabhängigen pba_205.024 Zufalls, dieses in den epischen und dramatischen Geschehnissen pba_205.025 so hochbedeutenden und ganz unentbehrlichen Faktors? pba_205.026 Gerade diese Einwürfe, alle zusammengenommen, führen zum Ziel! pba_205.027 Aus der ungeheuren Flut der Handlungen und Ereignisse greift pba_205.028 die epische, die dramatische Nachahmung einen Komplex heraus und stellt pba_205.029 ihn als eine einheitliche Handlung dar. Nach welchem Gesetz pba_205.030 wird diese Einheit erkannt und beurteilt? Niemand hat dieses pba_205.031 Gesetz sicherer erkennen können als es von jeher in allen Schöpfungen pba_205.032 des dichtenden Volksgeistes enthalten war. Nicht in dem wirklichen Zusammenhange pba_205.033 der Ereignisse und Thaten ist es gegeben: er diktiert der pba_205.034 Geschichte ihre Gesetze, die Poesie hat ein anders, um dessentwillen pba_205.035 Aristoteles sie „philosophischer“ nannte als jene. Hören wir zur Bestätigung pba_205.036 des Gesagten, wie einer der größten unsrer deutschen Forscher pba_205.037 über den Gegenstand sich äußert: 1 „Die Poesie ist das erste und ein- 1 pba_205.038 Wilhelm Grimm in einer Rede: „Über Geschichte und Poesie“; siehe pba_205.039 Kl. Schrft. Bd. I, S. 497 ff.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/223>, abgerufen am 24.11.2024.