Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_180.001 pba_180.004 1 pba_180.029 S. a. a. O. (Hempel X, S. 50). 2 pba_180.030
Was in der neuesten, sehr umfangreichen "Deutschen Poetik" von pba_180.031 Dr. C. Beyer in dieser Frage vorgebracht wird (vgl. Bd. II, S. 168), ist so willkürlich pba_180.032 und zugleich, wie die theoretischen Auslassungen dieses Buches durchweg, so pba_180.033 unklar und unwissenschaftlich, daß es einer Widerlegung nicht wert ist. Als eine pba_180.034 Probe unglaublicher Verworrenheit mag die betreffende Stelle hier stehen: Hauptsatz: pba_180.035 "Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas Anschauliches, pba_180.036 vor Augen Liegendes: die Parabel ist die Analogie (!) für eine pba_180.037 Wahrheit! Dazu die Erläuterung: "Lehre und einkleidende Anschauung (!) pba_180.038 unterscheiden die Parabel von der Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen pba_180.039 Stufe des Lehrhaften stehend, eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel pba_180.040 für sittliche Lehren von höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen pba_180.041 Form ... fähig. Bei der Lehre, welche die Fabel gibt, ist es meist ganz pba_180.001 pba_180.004 1 pba_180.029 S. a. a. O. (Hempel X, S. 50). 2 pba_180.030
Was in der neuesten, sehr umfangreichen „Deutschen Poetik“ von pba_180.031 Dr. C. Beyer in dieser Frage vorgebracht wird (vgl. Bd. II, S. 168), ist so willkürlich pba_180.032 und zugleich, wie die theoretischen Auslassungen dieses Buches durchweg, so pba_180.033 unklar und unwissenschaftlich, daß es einer Widerlegung nicht wert ist. Als eine pba_180.034 Probe unglaublicher Verworrenheit mag die betreffende Stelle hier stehen: Hauptsatz: pba_180.035 „Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas Anschauliches, pba_180.036 vor Augen Liegendes: die Parabel ist die Analogie (!) für eine pba_180.037 Wahrheit! Dazu die Erläuterung: „Lehre und einkleidende Anschauung (!) pba_180.038 unterscheiden die Parabel von der Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen pba_180.039 Stufe des Lehrhaften stehend, eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel pba_180.040 für sittliche Lehren von höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen pba_180.041 Form ... fähig. Bei der Lehre, welche die Fabel gibt, ist es meist ganz <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0198" n="180"/><lb n="pba_180.001"/> denn auch diese Benennung selbst auf die Fabel übergeht und der Ursprung <lb n="pba_180.002"/> der altdeutschen Ausdrücke <foreign xml:lang="goh">bispel</foreign> oder <foreign xml:lang="goh">biwurti</foreign> ganz eine solche <lb n="pba_180.003"/> Beziehung verrät“.</p> <p><lb n="pba_180.004"/> Wenn man die Lessingsche Fabeldefinition beibehält, dürfte es ganz <lb n="pba_180.005"/> unmöglich sein, die Grenzlinie zwischen ihr und der <hi rendition="#g">Parabel</hi> zu ziehen; <lb n="pba_180.006"/> denn daß die Unterscheidung, welche Lessing selbst gelegentlich in den <lb n="pba_180.007"/> Fabel-Abhandlungen festsetzt und die von da ab bis heute in den Lehrbüchern <lb n="pba_180.008"/> festgehalten wird, falsch ist, läßt sich leicht zeigen. Er setzt den <lb n="pba_180.009"/> Unterschied der Parabel von der Fabel in ihr Verhältnis zur Wirklichkeit: <lb n="pba_180.010"/> „Der <hi rendition="#g">einzelne Fall,</hi> aus welchem die Fabel bestehet, muß als <lb n="pba_180.011"/> <hi rendition="#g">wirklich</hi> vorgestellt werden. Begnüge ich mich an der <hi rendition="#g">Möglichkeit</hi> <lb n="pba_180.012"/> desselben, so ist es ein <hi rendition="#g">Beispiel,</hi> eine <hi rendition="#g">Parabel</hi>“.<note xml:id="pba_180_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_180.029"/> S. a. a. O. (Hempel X, S. 50).</note> Das wäre also <lb n="pba_180.013"/> ein lediglich formaler, ein äußerlicher Unterschied, der durch die geringfügige <lb n="pba_180.014"/> Veränderung des Präsens in das Präteritum schon fast ganz beseitigt <lb n="pba_180.015"/> würde; von einer inneren Wesensverschiedenheit wäre da keine <lb n="pba_180.016"/> Rede. Aber widerspricht nicht sogar in diesem einzigen angeblich differierenden <lb n="pba_180.017"/> Punkte die Praxis ganz augenscheinlich dem Lessingschen Satze, <lb n="pba_180.018"/> und sogar Lessings eigene Praxis? Wer wird in Zweifel stellen, daß <lb n="pba_180.019"/> Nathans Erzählung von den drei Ringen eine Parabel ist, und zwar <lb n="pba_180.020"/> ein Muster dieser Gattung? Und doch ist in ihr ein „<hi rendition="#g">einzelner Fall</hi>“ <lb n="pba_180.021"/> als „<hi rendition="#g">wirklich</hi>“ vorgestellt, welcher „eine allgemeine moralische Wahrheit <lb n="pba_180.022"/> zur anschauenden Erkenntnis bringt“; also nach Lessings Theorie hat <lb n="pba_180.023"/> Nathan eine Fabel erzählt. Ganz ebenso müßte die Gleichnisrede des <lb n="pba_180.024"/> Evangeliums „Es <hi rendition="#g">ging</hi> ein Sämann aus zu säen“ und alle ähnlichen, <lb n="pba_180.025"/> in denen ein Vorgang im Präteritum erzählt wird, schlechterdings in <lb n="pba_180.026"/> die Kategorie der Fabel gerechnet werden. Das wäre ein Unding. Der <lb n="pba_180.027"/> Unterschied muß tiefer und im Wesen der Sache begründet liegen, aber, <lb n="pba_180.028"/> soweit ich sehe, ist der Versuch dieser Unterscheidung nicht gemacht worden.<note xml:id="pba_180_2a" n="2" place="foot" next="#pba_180_2b"><lb n="pba_180.030"/> Was in der neuesten, sehr umfangreichen „<hi rendition="#g">Deutschen Poetik</hi>“ von <lb n="pba_180.031"/> Dr. C. <hi rendition="#g">Beyer</hi> in dieser Frage vorgebracht wird (vgl. Bd. II, S. 168), ist so willkürlich <lb n="pba_180.032"/> und zugleich, wie die theoretischen Auslassungen dieses Buches <hi rendition="#g">durchweg,</hi> so <lb n="pba_180.033"/> unklar und unwissenschaftlich, daß es einer Widerlegung nicht wert ist. Als eine <lb n="pba_180.034"/> Probe unglaublicher Verworrenheit mag die betreffende Stelle hier stehen: Hauptsatz: <lb n="pba_180.035"/> „Die Fabel ist ein <hi rendition="#g">vergleichendes</hi> Beispiel <hi rendition="#g">für irgend etwas Anschauliches, <lb n="pba_180.036"/> vor Augen Liegendes: die Parabel</hi> ist die <hi rendition="#g">Analogie</hi> (!) <hi rendition="#g">für eine <lb n="pba_180.037"/> Wahrheit!</hi> Dazu die Erläuterung: „Lehre und <hi rendition="#g">einkleidende Anschauung</hi> (!) <lb n="pba_180.038"/> unterscheiden die Parabel von der Fabel. 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denn auch diese Benennung selbst auf die Fabel übergeht und der Ursprung pba_180.002
der altdeutschen Ausdrücke bispel oder biwurti ganz eine solche pba_180.003
Beziehung verrät“.
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Wenn man die Lessingsche Fabeldefinition beibehält, dürfte es ganz pba_180.005
unmöglich sein, die Grenzlinie zwischen ihr und der Parabel zu ziehen; pba_180.006
denn daß die Unterscheidung, welche Lessing selbst gelegentlich in den pba_180.007
Fabel-Abhandlungen festsetzt und die von da ab bis heute in den Lehrbüchern pba_180.008
festgehalten wird, falsch ist, läßt sich leicht zeigen. Er setzt den pba_180.009
Unterschied der Parabel von der Fabel in ihr Verhältnis zur Wirklichkeit: pba_180.010
„Der einzelne Fall, aus welchem die Fabel bestehet, muß als pba_180.011
wirklich vorgestellt werden. Begnüge ich mich an der Möglichkeit pba_180.012
desselben, so ist es ein Beispiel, eine Parabel“. 1 Das wäre also pba_180.013
ein lediglich formaler, ein äußerlicher Unterschied, der durch die geringfügige pba_180.014
Veränderung des Präsens in das Präteritum schon fast ganz beseitigt pba_180.015
würde; von einer inneren Wesensverschiedenheit wäre da keine pba_180.016
Rede. Aber widerspricht nicht sogar in diesem einzigen angeblich differierenden pba_180.017
Punkte die Praxis ganz augenscheinlich dem Lessingschen Satze, pba_180.018
und sogar Lessings eigene Praxis? Wer wird in Zweifel stellen, daß pba_180.019
Nathans Erzählung von den drei Ringen eine Parabel ist, und zwar pba_180.020
ein Muster dieser Gattung? Und doch ist in ihr ein „einzelner Fall“ pba_180.021
als „wirklich“ vorgestellt, welcher „eine allgemeine moralische Wahrheit pba_180.022
zur anschauenden Erkenntnis bringt“; also nach Lessings Theorie hat pba_180.023
Nathan eine Fabel erzählt. Ganz ebenso müßte die Gleichnisrede des pba_180.024
Evangeliums „Es ging ein Sämann aus zu säen“ und alle ähnlichen, pba_180.025
in denen ein Vorgang im Präteritum erzählt wird, schlechterdings in pba_180.026
die Kategorie der Fabel gerechnet werden. Das wäre ein Unding. Der pba_180.027
Unterschied muß tiefer und im Wesen der Sache begründet liegen, aber, pba_180.028
soweit ich sehe, ist der Versuch dieser Unterscheidung nicht gemacht worden. 2
1 pba_180.029
S. a. a. O. (Hempel X, S. 50).
2 pba_180.030
Was in der neuesten, sehr umfangreichen „Deutschen Poetik“ von pba_180.031
Dr. C. Beyer in dieser Frage vorgebracht wird (vgl. Bd. II, S. 168), ist so willkürlich pba_180.032
und zugleich, wie die theoretischen Auslassungen dieses Buches durchweg, so pba_180.033
unklar und unwissenschaftlich, daß es einer Widerlegung nicht wert ist. Als eine pba_180.034
Probe unglaublicher Verworrenheit mag die betreffende Stelle hier stehen: Hauptsatz: pba_180.035
„Die Fabel ist ein vergleichendes Beispiel für irgend etwas Anschauliches, pba_180.036
vor Augen Liegendes: die Parabel ist die Analogie (!) für eine pba_180.037
Wahrheit! Dazu die Erläuterung: „Lehre und einkleidende Anschauung (!) pba_180.038
unterscheiden die Parabel von der Fabel. Während die Fabel, auf einer niederen pba_180.039
Stufe des Lehrhaften stehend, eine wenig anspruchsvolle Form hat, ist die Parabel pba_180.040
für sittliche Lehren von höherer Bedeutung bestimmt und daher einer mehr künstlerischen pba_180.041
Form ... fähig. Bei der Lehre, welche die Fabel gibt, ist es meist ganz
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