Laudatis utiliora quae contemserispba_165.002 Saepe inveniri,
pba_165.003
nötigt die Auffassung des Fabelstoffs als "wirkliche Handlung" pba_165.004 dazu, jene Momente des durch sich selbst bestimmten Willens und pba_165.005 charakteristischen Entschließens und Thuns mit ihren Folgen zu lebendiger pba_165.006 Wirksamkeit zu bringen, d. h. mit andern Worten: episch zu erzählen,pba_165.007 wobei dann jede äußerlich hinzugefügte Nutzanwendung überflüssig wird, pba_165.008 ja vom Uebel, da sie den Kreis der durch die "Handlung" in Bewegung pba_165.009 gesetzten Gedanken auf einen einzigen Punkt einschränkt, sei derselbe auch pba_165.010 immerhin der wesentlichste.
pba_165.011 Lessing selbst hat sich nicht enthalten können, seiner Theorie einen pba_165.012 Zusatz anzuhängen, welcher genau betrachtet den Keim ihrer Auflösung pba_165.013 enthält. "So viel ist wahr", sagt er, "wenn aus einem Erfahrungssatz pba_165.014 unmittelbar eine Pflicht, etwas zu thun oder zu lassen, folget, so thut pba_165.015 der Dichter besser, wenn er die Pflicht, als wenn er den bloßen Erfahrungssatz pba_165.016 in seiner Fabel ausdrückt. -- ""Groß sein ist nicht immer pba_165.017 ein Glück."" -- Diesen Erfahrungssatz in eine schöne Fabel zu bringen, pba_165.018 möchte kaum möglich sein. Die Fabel von dem Fischer, welcher nur pba_165.019 der größten Fische habhaft bleibet, indem die kleineren glücklich durch pba_165.020 das Netz durchschlupfen, ist in mehr als einer Betrachtung ein sehr mißlungener pba_165.021 Versuch. Aber wer heißt auch dem Dichter die Wahrheit von pba_165.022 dieser schielenden und unfruchtbaren Seite nehmen? Wenn groß sein pba_165.023 nicht immer ein Glück ist, so ist es oft ein Unglück, und wehe dem, der pba_165.024 wider seinen Willen groß ward (-- es mag gleich hier eingeschaltet pba_165.025 werden: also doch ohne seine "Wahl" und wider seine "Absicht" --), pba_165.026 den das Glück ohne sein Zuthun (also ohne eine "Unternehmung" pba_165.027 seinerseits) erhob, um ihn ohne sein Verschulden desto elender zu machen! pba_165.028 Die großen Fische mußten groß werden, es stand nicht bei ihnen, klein pba_165.029 zu bleiben. Jch danke dem Dichter für kein Bild, in welchem ebenso pba_165.030 viele ihr Unglück als ihr Glück erkennen. Er soll niemanden mit seinen pba_165.031 Umständen unzufrieden machen, und hier macht er doch, daß es die pba_165.032 Großen mit den ihrigen sein müssen. Nicht das Großsein, sondern die pba_165.033 eitle Begierde, groß zu werden (kenodoxian) sollte er uns als eine pba_165.034 Quelle des Unglücks zeigen. Und das that jener Alte, der die Fabel pba_165.035 von den Mäusen und Wieseln erzählte. ""Die Mäuse glaubten, daß pba_165.036 sie nur deswegen in ihrem Kriege mit den Wieseln unglücklich wären, pba_165.037 weil sie keine Heerführer hätten, und beschlossen, dergleichen zu wählen. pba_165.038 Wie rang nicht diese und jene ehrgeizige Maus, es zu werden! Und pba_165.039 wie teuer kam ihr am Ende dieser Vorzug zu stehen! Die Eiteln pba_165.040 banden sich Hörner auf,
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Laudatis utiliora quae contemserispba_165.002 Saepe inveniri,
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nötigt die Auffassung des Fabelstoffs als „wirkliche Handlung“ pba_165.004 dazu, jene Momente des durch sich selbst bestimmten Willens und pba_165.005 charakteristischen Entschließens und Thuns mit ihren Folgen zu lebendiger pba_165.006 Wirksamkeit zu bringen, d. h. mit andern Worten: episch zu erzählen,pba_165.007 wobei dann jede äußerlich hinzugefügte Nutzanwendung überflüssig wird, pba_165.008 ja vom Uebel, da sie den Kreis der durch die „Handlung“ in Bewegung pba_165.009 gesetzten Gedanken auf einen einzigen Punkt einschränkt, sei derselbe auch pba_165.010 immerhin der wesentlichste.
pba_165.011 Lessing selbst hat sich nicht enthalten können, seiner Theorie einen pba_165.012 Zusatz anzuhängen, welcher genau betrachtet den Keim ihrer Auflösung pba_165.013 enthält. „So viel ist wahr“, sagt er, „wenn aus einem Erfahrungssatz pba_165.014 unmittelbar eine Pflicht, etwas zu thun oder zu lassen, folget, so thut pba_165.015 der Dichter besser, wenn er die Pflicht, als wenn er den bloßen Erfahrungssatz pba_165.016 in seiner Fabel ausdrückt. — „„Groß sein ist nicht immer pba_165.017 ein Glück.““ — Diesen Erfahrungssatz in eine schöne Fabel zu bringen, pba_165.018 möchte kaum möglich sein. Die Fabel von dem Fischer, welcher nur pba_165.019 der größten Fische habhaft bleibet, indem die kleineren glücklich durch pba_165.020 das Netz durchschlupfen, ist in mehr als einer Betrachtung ein sehr mißlungener pba_165.021 Versuch. Aber wer heißt auch dem Dichter die Wahrheit von pba_165.022 dieser schielenden und unfruchtbaren Seite nehmen? Wenn groß sein pba_165.023 nicht immer ein Glück ist, so ist es oft ein Unglück, und wehe dem, der pba_165.024 wider seinen Willen groß ward (— es mag gleich hier eingeschaltet pba_165.025 werden: also doch ohne seine „Wahl“ und wider seine „Absicht“ —), pba_165.026 den das Glück ohne sein Zuthun (also ohne eine „Unternehmung“ pba_165.027 seinerseits) erhob, um ihn ohne sein Verschulden desto elender zu machen! pba_165.028 Die großen Fische mußten groß werden, es stand nicht bei ihnen, klein pba_165.029 zu bleiben. Jch danke dem Dichter für kein Bild, in welchem ebenso pba_165.030 viele ihr Unglück als ihr Glück erkennen. Er soll niemanden mit seinen pba_165.031 Umständen unzufrieden machen, und hier macht er doch, daß es die pba_165.032 Großen mit den ihrigen sein müssen. Nicht das Großsein, sondern die pba_165.033 eitle Begierde, groß zu werden (κενοδοξίαν) sollte er uns als eine pba_165.034 Quelle des Unglücks zeigen. Und das that jener Alte, der die Fabel pba_165.035 von den Mäusen und Wieseln erzählte. „„Die Mäuse glaubten, daß pba_165.036 sie nur deswegen in ihrem Kriege mit den Wieseln unglücklich wären, pba_165.037 weil sie keine Heerführer hätten, und beschlossen, dergleichen zu wählen. pba_165.038 Wie rang nicht diese und jene ehrgeizige Maus, es zu werden! Und pba_165.039 wie teuer kam ihr am Ende dieser Vorzug zu stehen! Die Eiteln pba_165.040 banden sich Hörner auf,
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Lessing selbst hat sich nicht enthalten können, seiner Theorie einen pba_165.012
Zusatz anzuhängen, welcher genau betrachtet den Keim ihrer Auflösung pba_165.013
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ein Glück.““ — Diesen Erfahrungssatz in eine schöne Fabel zu bringen, pba_165.018
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viele ihr Unglück als ihr Glück erkennen. Er soll niemanden mit seinen pba_165.031
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von den Mäusen und Wieseln erzählte. „„Die Mäuse glaubten, daß pba_165.036
sie nur deswegen in ihrem Kriege mit den Wieseln unglücklich wären, pba_165.037
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/183>, abgerufen am 22.11.2024.
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