nach einigen Augenblicken stürzte das Kammermädchen aufgeregt mit den Worten herein: "Ein verstört aus¬ sehender Mann will das Vorzimmer nicht verlassen! Er starrt das gegebene Almosen verwirrt an, dabei stam¬ melnd: "Frau gestorben -- Fräulein -- Hülfe!"
Louis erhob sich, um nach dem Eindringling zu sehen. Wir hörten sprechen, schluchzen, aufschreien, und eilten dem Bruder nach. Da sahen wir ihn, wie be¬ täubt vom Gehörten, vor einem älteren Manne stehen, der auf einen Stuhl gesunken war, mit geschlossenen Augen und schlaff herabhängenden Armen, von Besin¬ nung und Kraft verlassen.
Doch wie mußte ich staunen, in dem Unglücklichen den Schauspieler Brede zu erkennen. Im Spätherbst war er auf's Gerathewohl mit seiner Familie nach Pe¬ tersburg gekommen, auf ein Engagement nach geglücktem Gastspiel hoffend. Er mißfiel, und zweimal steuerten sämmtliche deutsche Theatermitglieder zusammen, damit er die Rückreise antreten konnte. Niemand hatte ihn später gesehen, und man wähnte ihn bereits vor Aus¬ bruch des Winters in Deutschland angelangt.
Der Bruder wiederholte uns, was der Unglückliche ihm mitgetheilt: Brede wohne zur Zeit in der äußersten Vorstadt, unter Stockrussen niedrigster Klasse, seine Frau war niedergekommen und die Abreise mußte verschoben werden. Nach und nach habe Brede Alles verkauft und zugesetzt, indem er nicht gewagt, seine Kollegen zum dritten Mal um Hülfe zu bitten. Gestern sei die Frau
nach einigen Augenblicken ſtürzte das Kammermädchen aufgeregt mit den Worten herein: »Ein verſtört aus¬ ſehender Mann will das Vorzimmer nicht verlaſſen! Er ſtarrt das gegebene Almoſen verwirrt an, dabei ſtam¬ melnd: »Frau geſtorben — Fräulein — Hülfe!«
Louis erhob ſich, um nach dem Eindringling zu ſehen. Wir hörten ſprechen, ſchluchzen, aufſchreien, und eilten dem Bruder nach. Da ſahen wir ihn, wie be¬ täubt vom Gehörten, vor einem älteren Manne ſtehen, der auf einen Stuhl geſunken war, mit geſchloſſenen Augen und ſchlaff herabhängenden Armen, von Beſin¬ nung und Kraft verlaſſen.
Doch wie mußte ich ſtaunen, in dem Unglücklichen den Schauſpieler Brede zu erkennen. Im Spätherbſt war er auf's Gerathewohl mit ſeiner Familie nach Pe¬ tersburg gekommen, auf ein Engagement nach geglücktem Gaſtſpiel hoffend. Er mißfiel, und zweimal ſteuerten ſämmtliche deutſche Theatermitglieder zuſammen, damit er die Rückreiſe antreten konnte. Niemand hatte ihn ſpäter geſehen, und man wähnte ihn bereits vor Aus¬ bruch des Winters in Deutſchland angelangt.
Der Bruder wiederholte uns, was der Unglückliche ihm mitgetheilt: Brede wohne zur Zeit in der äußerſten Vorſtadt, unter Stockruſſen niedrigſter Klaſſe, ſeine Frau war niedergekommen und die Abreiſe mußte verſchoben werden. Nach und nach habe Brede Alles verkauft und zugeſetzt, indem er nicht gewagt, ſeine Kollegen zum dritten Mal um Hülfe zu bitten. Geſtern ſei die Frau
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nach einigen Augenblicken ſtürzte das Kammermädchen
aufgeregt mit den Worten herein: »Ein verſtört aus¬
ſehender Mann will das Vorzimmer nicht verlaſſen! Er
ſtarrt das gegebene Almoſen verwirrt an, dabei ſtam¬
melnd: »Frau geſtorben — Fräulein — Hülfe!«
Louis erhob ſich, um nach dem Eindringling zu
ſehen. Wir hörten ſprechen, ſchluchzen, aufſchreien, und
eilten dem Bruder nach. Da ſahen wir ihn, wie be¬
täubt vom Gehörten, vor einem älteren Manne ſtehen,
der auf einen Stuhl geſunken war, mit geſchloſſenen
Augen und ſchlaff herabhängenden Armen, von Beſin¬
nung und Kraft verlaſſen.
Doch wie mußte ich ſtaunen, in dem Unglücklichen
den Schauſpieler Brede zu erkennen. Im Spätherbſt
war er auf's Gerathewohl mit ſeiner Familie nach Pe¬
tersburg gekommen, auf ein Engagement nach geglücktem
Gaſtſpiel hoffend. Er mißfiel, und zweimal ſteuerten
ſämmtliche deutſche Theatermitglieder zuſammen, damit
er die Rückreiſe antreten konnte. Niemand hatte ihn
ſpäter geſehen, und man wähnte ihn bereits vor Aus¬
bruch des Winters in Deutſchland angelangt.
Der Bruder wiederholte uns, was der Unglückliche
ihm mitgetheilt: Brede wohne zur Zeit in der äußerſten
Vorſtadt, unter Stockruſſen niedrigſter Klaſſe, ſeine Frau
war niedergekommen und die Abreiſe mußte verſchoben
werden. Nach und nach habe Brede Alles verkauft und
zugeſetzt, indem er nicht gewagt, ſeine Kollegen zum
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Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bauer_buehnenleben_1871/261>, abgerufen am 22.11.2024.
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