Barlow hatte Thränen im Auge und sagte sehr er¬ griffen: "Unser trefflicher Kapellmeister Schreinzer liegt an der Cholera tödtlich erkrankt; er, der gestern noch die Preziosa dirigirte! Unsere beiden Theaterdiener mußten soeben in's Spital transportirt werden, zwei Angestellte fielen im Büreauzimmer um -- -- und wir sollen fort¬ spielen? -- Dabei sind, wie immer im Sommer, 40,000 Muschiks in Petersburg, und die durchziehen jetzt wüthend die Straßen, Tod den Fremden schwörend -- und keine Truppen in der Residenz, sie im Zaum zu halten! ... Der Kaiser ist mit seiner Familie in Zarskoje- Selo und weiß sicher nicht genau, was sich hier zu¬ trägt ... Wie sollen wir ohne Lebensgefahr nur bis an's Theatergebäude gelangen?"
Muralt hatte aufmerksam zugehört, dann reichte er uns hastig die Hand zum Abschiede: "Ich eile zu meinem Freund, dem Minister Cancrin, der soll sogleich dem Kaiser die Wahrheit mittheilen -- sicher langt der Befehl zum Schließen der Theater baldigst an ..."
Aber der Befehl blieb aus.
Doch wunderbar gewöhnt sich der Mensch auch an das Schrecklichste, wenn er es täglich vor Augen hat und weiß: nur Ruhe und Energie kann dich retten!
Ehe man in's Schauspielhaus fuhr, nahm man zärtlich, aber gefaßt von den Seinigen Abschied. Mit Gebet und Gottvertrauen stieg man in den Theaterwagen -- und getrost ging's durch wilde Bauernhaufen und heranziehende Truppen. Es wurde nicht einmal
Barlow hatte Thränen im Auge und ſagte ſehr er¬ griffen: »Unſer trefflicher Kapellmeiſter Schreinzer liegt an der Cholera tödtlich erkrankt; er, der geſtern noch die Prezioſa dirigirte! Unſere beiden Theaterdiener mußten ſoeben in's Spital transportirt werden, zwei Angeſtellte fielen im Büreauzimmer um — — und wir ſollen fort¬ ſpielen? — Dabei ſind, wie immer im Sommer, 40,000 Muſchiks in Petersburg, und die durchziehen jetzt wüthend die Straßen, Tod den Fremden ſchwörend — und keine Truppen in der Reſidenz, ſie im Zaum zu halten! … Der Kaiſer iſt mit ſeiner Familie in Zarskoje- Selo und weiß ſicher nicht genau, was ſich hier zu¬ trägt … Wie ſollen wir ohne Lebensgefahr nur bis an's Theatergebäude gelangen?«
Muralt hatte aufmerkſam zugehört, dann reichte er uns haſtig die Hand zum Abſchiede: »Ich eile zu meinem Freund, dem Miniſter Cancrin, der ſoll ſogleich dem Kaiſer die Wahrheit mittheilen — ſicher langt der Befehl zum Schließen der Theater baldigſt an …«
Aber der Befehl blieb aus.
Doch wunderbar gewöhnt ſich der Menſch auch an das Schrecklichſte, wenn er es täglich vor Augen hat und weiß: nur Ruhe und Energie kann dich retten!
Ehe man in's Schauſpielhaus fuhr, nahm man zärtlich, aber gefaßt von den Seinigen Abſchied. Mit Gebet und Gottvertrauen ſtieg man in den Theaterwagen — und getroſt ging's durch wilde Bauernhaufen und heranziehende Truppen. Es wurde nicht einmal
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Barlow hatte Thränen im Auge und ſagte ſehr er¬
griffen: »Unſer trefflicher Kapellmeiſter Schreinzer liegt
an der Cholera tödtlich erkrankt; er, der geſtern noch die
Prezioſa dirigirte! Unſere beiden Theaterdiener mußten
ſoeben in's Spital transportirt werden, zwei Angeſtellte
fielen im Büreauzimmer um — — und wir ſollen fort¬
ſpielen? — Dabei ſind, wie immer im Sommer,
40,000 Muſchiks in Petersburg, und die durchziehen jetzt
wüthend die Straßen, Tod den Fremden ſchwörend —
und keine Truppen in der Reſidenz, ſie im Zaum zu
halten! … Der Kaiſer iſt mit ſeiner Familie in Zarskoje-
Selo und weiß ſicher nicht genau, was ſich hier zu¬
trägt … Wie ſollen wir ohne Lebensgefahr nur bis
an's Theatergebäude gelangen?«
Muralt hatte aufmerkſam zugehört, dann reichte er
uns haſtig die Hand zum Abſchiede: »Ich eile zu meinem
Freund, dem Miniſter Cancrin, der ſoll ſogleich dem
Kaiſer die Wahrheit mittheilen — ſicher langt der Befehl
zum Schließen der Theater baldigſt an …«
Aber der Befehl blieb aus.
Doch wunderbar gewöhnt ſich der Menſch auch an
das Schrecklichſte, wenn er es täglich vor Augen hat
und weiß: nur Ruhe und Energie kann dich retten!
Ehe man in's Schauſpielhaus fuhr, nahm man
zärtlich, aber gefaßt von den Seinigen Abſchied. Mit
Gebet und Gottvertrauen ſtieg man in den Theaterwagen
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Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bauer_buehnenleben_1871/234>, abgerufen am 22.11.2024.
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