sehen, ein Original im vollsten Sinne des Wortes, aber ein so liebenswürdiges, großartiges und doch so be¬ scheidenes, daß man seine Eigenheiten gern übersieht. Devrient's Darstellung bietet immer Neues, Ueber¬ raschendes. Wenn man ihn öfters in demselben Stücke gesehen und sich freut auf Scenen, welche er früher schon nach unserem Bedünken unübertrefflich gab, da schafft er doch noch Ergreifenderes ... Manches Mal scheint er abgespannt zu sein, mit sich unzufrieden, geht hinter den Coulissen rasch auf und ab, vor sich hinsprechend: "Es geht heute gar nicht!" und fragt dann wohl einen vorübergehenden Kollegen: "Nicht wahr, ich spiele heute schlecht? Das Publikum ist kalt -- giebt kein Lebens¬ zeichen!?" ... und plötzlich wieder weiß er zu elektrisiren, daß rasender Beifall ertönt und er selbst wieder voll Zuversicht erscheint. Unsere herrliche Künstlerin Mad. Wolff nennt dies "Genie" und ich hörte mehr als ein¬ mal, wie sie sagte: "Devrient trifft wie mit Zauber¬ gewalt das Richtige, was mein Mann erst mühsam herausstudirt."
Fragen Sie mich nun: spielen Sie lieber mit Wolff oder Devrient? so erwidere ich unverhohlen: mit Ersterem! Man verliert die Fassung nicht, wie bei Devrient, wenn er zerstreut ist, oft ganz anders eine Szene darstellt, als in der Probe, oder so erschütternd, daß man vor lauter Thränen nicht sprechen kann. Ich sage dies als Kunstnovize, die Meisterinnen werden mit Devrient ihre Aufgaben so sicher lösen, wie mit Wolff. Hören Sie,
ſehen, ein Original im vollſten Sinne des Wortes, aber ein ſo liebenswürdiges, großartiges und doch ſo be¬ ſcheidenes, daß man ſeine Eigenheiten gern überſieht. Devrient's Darſtellung bietet immer Neues, Ueber¬ raſchendes. Wenn man ihn öfters in demſelben Stücke geſehen und ſich freut auf Scenen, welche er früher ſchon nach unſerem Bedünken unübertrefflich gab, da ſchafft er doch noch Ergreifenderes … Manches Mal ſcheint er abgeſpannt zu ſein, mit ſich unzufrieden, geht hinter den Couliſſen raſch auf und ab, vor ſich hinſprechend: »Es geht heute gar nicht!« und fragt dann wohl einen vorübergehenden Kollegen: »Nicht wahr, ich ſpiele heute ſchlecht? Das Publikum iſt kalt — giebt kein Lebens¬ zeichen!?« … und plötzlich wieder weiß er zu elektriſiren, daß raſender Beifall ertönt und er ſelbſt wieder voll Zuverſicht erſcheint. Unſere herrliche Künſtlerin Mad. Wolff nennt dies »Genie« und ich hörte mehr als ein¬ mal, wie ſie ſagte: »Devrient trifft wie mit Zauber¬ gewalt das Richtige, was mein Mann erſt mühſam herausſtudirt.«
Fragen Sie mich nun: ſpielen Sie lieber mit Wolff oder Devrient? ſo erwidere ich unverhohlen: mit Erſterem! Man verliert die Faſſung nicht, wie bei Devrient, wenn er zerſtreut iſt, oft ganz anders eine Szene darſtellt, als in der Probe, oder ſo erſchütternd, daß man vor lauter Thränen nicht ſprechen kann. Ich ſage dies als Kunſtnovize, die Meiſterinnen werden mit Devrient ihre Aufgaben ſo ſicher löſen, wie mit Wolff. Hören Sie,
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ſehen, ein Original im vollſten Sinne des Wortes, aber
ein ſo liebenswürdiges, großartiges und doch ſo be¬
ſcheidenes, daß man ſeine Eigenheiten gern überſieht.
Devrient's Darſtellung bietet immer Neues, Ueber¬
raſchendes. Wenn man ihn öfters in demſelben Stücke
geſehen und ſich freut auf Scenen, welche er früher ſchon
nach unſerem Bedünken unübertrefflich gab, da ſchafft er
doch noch Ergreifenderes … Manches Mal ſcheint er
abgeſpannt zu ſein, mit ſich unzufrieden, geht hinter
den Couliſſen raſch auf und ab, vor ſich hinſprechend:
»Es geht heute gar nicht!« und fragt dann wohl einen
vorübergehenden Kollegen: »Nicht wahr, ich ſpiele heute
ſchlecht? Das Publikum iſt kalt — giebt kein Lebens¬
zeichen!?« … und plötzlich wieder weiß er zu elektriſiren,
daß raſender Beifall ertönt und er ſelbſt wieder voll
Zuverſicht erſcheint. Unſere herrliche Künſtlerin Mad.
Wolff nennt dies »Genie« und ich hörte mehr als ein¬
mal, wie ſie ſagte: »Devrient trifft wie mit Zauber¬
gewalt das Richtige, was mein Mann erſt mühſam
herausſtudirt.«
Fragen Sie mich nun: ſpielen Sie lieber mit Wolff
oder Devrient? ſo erwidere ich unverhohlen: mit Erſterem!
Man verliert die Faſſung nicht, wie bei Devrient, wenn
er zerſtreut iſt, oft ganz anders eine Szene darſtellt,
als in der Probe, oder ſo erſchütternd, daß man vor
lauter Thränen nicht ſprechen kann. Ich ſage dies als
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Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bauer_buehnenleben_1871/140>, abgerufen am 22.11.2024.
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