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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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Seiten durch mathematische Formeln gesicherten Astronomie
könnte Missgunst vorhalten, dass eine ihre bisherige Lebens-
dauer weit übersteigende Zahl von Jahrhunderten hindurch
die frühere Theorie der Epicykeln ebenso sicher und fest
gegolten, und dennoch vom Abend auf den Morgen plötzlich
gefallen.

Ein Dutzend Jahre hindurch schien jeder Zweifel an
der Descendenztheorie Ketzerei, und dennoch hatte man so-
manche Theorien in nächster Nähe, die gleiche oder längere
Zeit hindurch mit Enthusiasmus begrüsst und betrieben
waren, ohne deshalb vor dem Sturze, als ihre Zeit gekom-
men, bewahrt zu werden.

"Die Vorstellung vom schraubenförmigen oder spiraligen
Gang der Entwicklung sämmtlicher Sprossungen der Pflanze
ist nicht nur eine unzweckmässige Hypothese, sie ist ein
Irrthum" (s. Hofmeister), aber nichtsdestoweniger bleibt
Schimper's Theorie (von der Blattstellung nach Zahlenverhält-
nissen und geometrischer Construction) "eine der beachtens-
werthen Erscheinungen in der Geschichte der Morphologie",
weil sie überhaupt eine consequent durchgeführte Theorie
ist (s. Sachs), wie Brown's in der Medicin (seit 1780).

So liegen auch die Einwürfe gegen die Descendenzlehre
nicht darin, dass sie auf Grund der von Darwin mit be-
wundernswerthem Scharfsinn und ausdauerndem Sammelfleiss
angeordneten Thatsachen eine Theorie*) entworfen, dass sie,
was, wie in vergleichender Anatomie der Zoologen, De Can-
dolle botanisch im Symmetrieenplan des Typus auszudrücken

*) Die Zuchtlehre Darwins ist "die kurzsichtigste, niedrigdummste und
brutalste, die möglich, und noch weit armseliger, als die von den zusam-
mengewürfelten Atomen, mit der ein moderner Possenreisser und Fälscher
bei uns sich interessant zu machen gesucht hat" (K. F. Schimper). Wenn
indess jüngere Bewunderer im Feuer der Begeisterung zu Uebertreibungen
fortgerissen wurden, dürfen diese keinenfalls dem grossen Reformator zur
Last gelegt werden, dessen ganzes Leben, auf Reisen und im Studirzimmer,
dem vorschwebenden Ziele gewidmet war. To gar pononunti kho theos sul-
lambanei.

Seiten durch mathematische Formeln gesicherten Astronomie
könnte Missgunst vorhalten, dass eine ihre bisherige Lebens-
dauer weit übersteigende Zahl von Jahrhunderten hindurch
die frühere Theorie der Epicykeln ebenso sicher und fest
gegolten, und dennoch vom Abend auf den Morgen plötzlich
gefallen.

Ein Dutzend Jahre hindurch schien jeder Zweifel an
der Descendenztheorie Ketzerei, und dennoch hatte man so-
manche Theorien in nächster Nähe, die gleiche oder längere
Zeit hindurch mit Enthusiasmus begrüsst und betrieben
waren, ohne deshalb vor dem Sturze, als ihre Zeit gekom-
men, bewahrt zu werden.

„Die Vorstellung vom schraubenförmigen oder spiraligen
Gang der Entwicklung sämmtlicher Sprossungen der Pflanze
ist nicht nur eine unzweckmässige Hypothese, sie ist ein
Irrthum“ (s. Hofmeister), aber nichtsdestoweniger bleibt
Schimper’s Theorie (von der Blattstellung nach Zahlenverhält-
nissen und geometrischer Construction) „eine der beachtens-
werthen Erscheinungen in der Geschichte der Morphologie“,
weil sie überhaupt eine consequent durchgeführte Theorie
ist (s. Sachs), wie Brown’s in der Medicin (seit 1780).

So liegen auch die Einwürfe gegen die Descendenzlehre
nicht darin, dass sie auf Grund der von Darwin mit be-
wundernswerthem Scharfsinn und ausdauerndem Sammelfleiss
angeordneten Thatsachen eine Theorie*) entworfen, dass sie,
was, wie in vergleichender Anatomie der Zoologen, De Can-
dolle botanisch im Symmetrieenplan des Typus auszudrücken

*) Die Zuchtlehre Darwins ist „die kurzsichtigste, niedrigdummste und
brutalste, die möglich, und noch weit armseliger, als die von den zusam-
mengewürfelten Atomen, mit der ein moderner Possenreisser und Fälscher
bei uns sich interessant zu machen gesucht hat“ (K. F. Schimper). Wenn
indess jüngere Bewunderer im Feuer der Begeisterung zu Uebertreibungen
fortgerissen wurden, dürfen diese keinenfalls dem grossen Reformator zur
Last gelegt werden, dessen ganzes Leben, auf Reisen und im Studirzimmer,
dem vorschwebenden Ziele gewidmet war. Τῷ γὰρ πονο̃υντι χὠ ϑεὸς συλ-
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[125/0159] Seiten durch mathematische Formeln gesicherten Astronomie könnte Missgunst vorhalten, dass eine ihre bisherige Lebens- dauer weit übersteigende Zahl von Jahrhunderten hindurch die frühere Theorie der Epicykeln ebenso sicher und fest gegolten, und dennoch vom Abend auf den Morgen plötzlich gefallen. Ein Dutzend Jahre hindurch schien jeder Zweifel an der Descendenztheorie Ketzerei, und dennoch hatte man so- manche Theorien in nächster Nähe, die gleiche oder längere Zeit hindurch mit Enthusiasmus begrüsst und betrieben waren, ohne deshalb vor dem Sturze, als ihre Zeit gekom- men, bewahrt zu werden. „Die Vorstellung vom schraubenförmigen oder spiraligen Gang der Entwicklung sämmtlicher Sprossungen der Pflanze ist nicht nur eine unzweckmässige Hypothese, sie ist ein Irrthum“ (s. Hofmeister), aber nichtsdestoweniger bleibt Schimper’s Theorie (von der Blattstellung nach Zahlenverhält- nissen und geometrischer Construction) „eine der beachtens- werthen Erscheinungen in der Geschichte der Morphologie“, weil sie überhaupt eine consequent durchgeführte Theorie ist (s. Sachs), wie Brown’s in der Medicin (seit 1780). So liegen auch die Einwürfe gegen die Descendenzlehre nicht darin, dass sie auf Grund der von Darwin mit be- wundernswerthem Scharfsinn und ausdauerndem Sammelfleiss angeordneten Thatsachen eine Theorie *) entworfen, dass sie, was, wie in vergleichender Anatomie der Zoologen, De Can- dolle botanisch im Symmetrieenplan des Typus auszudrücken *) Die Zuchtlehre Darwins ist „die kurzsichtigste, niedrigdummste und brutalste, die möglich, und noch weit armseliger, als die von den zusam- mengewürfelten Atomen, mit der ein moderner Possenreisser und Fälscher bei uns sich interessant zu machen gesucht hat“ (K. F. Schimper). Wenn indess jüngere Bewunderer im Feuer der Begeisterung zu Uebertreibungen fortgerissen wurden, dürfen diese keinenfalls dem grossen Reformator zur Last gelegt werden, dessen ganzes Leben, auf Reisen und im Studirzimmer, dem vorschwebenden Ziele gewidmet war. Τῷ γὰρ πονο̃υντι χὠ ϑεὸς συλ- λάμβανει.

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/159>, abgerufen am 22.11.2024.