Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

Und er fand diese Wurzel, die "Würde", in der freiwilligen
Zustimmung zu Gebot und Befehl: in der Antizipation des
Befehls, und er nannte sie "kategorischer Imperativ" im
Namen der "Persönlichkeit". Ist ein Satz wie der folgende
zu verstehen ohne diese Prämissen? Kant schreibt: "Hält
nicht einen rechtschaffenen Mann im grössten Unglücke
des Lebens (dem Militärdienst), das er vermeiden konnte,
wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können,
noch das Bewusstsein aufrecht, dass er die Menschheit in
seiner Person doch in ihre Würde erhalten und geehrt
habe: dass er sich nicht vor sich selbst zu schämen und
den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache
habe"? 89) Hält man Kant noch immer für den weltabge-
wandten Stubengelehrten? War er nicht vielmehr halb
Opfer, halb Helfer? War das Substrat seiner abstrakt-
anonymen Sätze nicht Friedrich Wilhelms Knutensystem?
Glaubt man, ohne Grund sei er für die Chamberlain und
Konsorten "die Braut, darumb man tanzet"? Er hat dem
preussischen Untertanen, wenn auch mit Skrupel und
Vorsicht, das gute Gewissen gegeben, sich knuten und
knebeln zu lassen. Er war der zweite Deutsche nach Luther,
der das Gewissen verriet; so sublim und abstrakt und so
dunkel, dass es gewitzigter Sinne bedarf, hier noch die
Urschrift zu lesen. Kant hob die preussische Knutung zur
Metaphysik 90).

Verbunden mit dem Erniedrigungsideal, das zum
Zynismus führen musste und auch führte, war die branden-
burgische Tradition des "Sich-formidabel-machens". Der
Grosse Kurfürst schreibt: "Unsere Voreltern seind der
ganzen Welt formidable gewesen und, wenn sie sich nur
gerühret, hat alles gezittert" 91). Der Satz wird Haustradition.
Friedrich Wilhelm I. legt seinem Nachfolger ans Herz:
"Mein successor muss sich bearbeiten, dass aus all seinen
Provinzen und in spezie Preussen die vom Adel und
Grafen in die Armee amploiren und die Kinder in die

Und er fand diese Wurzel, die „Würde“, in der freiwilligen
Zustimmung zu Gebot und Befehl: in der Antizipation des
Befehls, und er nannte sie „kategorischer Imperativ“ im
Namen der „Persönlichkeit“. Ist ein Satz wie der folgende
zu verstehen ohne diese Prämissen? Kant schreibt: „Hält
nicht einen rechtschaffenen Mann im grössten Unglücke
des Lebens (dem Militärdienst), das er vermeiden konnte,
wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können,
noch das Bewusstsein aufrecht, dass er die Menschheit in
seiner Person doch in ihre Würde erhalten und geehrt
habe: dass er sich nicht vor sich selbst zu schämen und
den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache
habe“? 89) Hält man Kant noch immer für den weltabge-
wandten Stubengelehrten? War er nicht vielmehr halb
Opfer, halb Helfer? War das Substrat seiner abstrakt-
anonymen Sätze nicht Friedrich Wilhelms Knutensystem?
Glaubt man, ohne Grund sei er für die Chamberlain und
Konsorten „die Braut, darumb man tanzet“? Er hat dem
preussischen Untertanen, wenn auch mit Skrupel und
Vorsicht, das gute Gewissen gegeben, sich knuten und
knebeln zu lassen. Er war der zweite Deutsche nach Luther,
der das Gewissen verriet; so sublim und abstrakt und so
dunkel, dass es gewitzigter Sinne bedarf, hier noch die
Urschrift zu lesen. Kant hob die preussische Knutung zur
Metaphysik 90).

Verbunden mit dem Erniedrigungsideal, das zum
Zynismus führen musste und auch führte, war die branden-
burgische Tradition des „Sich-formidabel-machens“. Der
Grosse Kurfürst schreibt: „Unsere Voreltern seind der
ganzen Welt formidable gewesen und, wenn sie sich nur
gerühret, hat alles gezittert“ 91). Der Satz wird Haustradition.
Friedrich Wilhelm I. legt seinem Nachfolger ans Herz:
„Mein successor muss sich bearbeiten, dass aus all seinen
Provinzen und in spezie Preussen die vom Adel und
Grafen in die Armee amploiren und die Kinder in die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0095" n="87"/>
Und er fand diese Wurzel, die &#x201E;Würde&#x201C;, in der freiwilligen<lb/>
Zustimmung zu Gebot und Befehl: in der Antizipation des<lb/>
Befehls, und er nannte sie &#x201E;kategorischer Imperativ&#x201C; im<lb/>
Namen der &#x201E;Persönlichkeit&#x201C;. Ist ein Satz wie der folgende<lb/>
zu verstehen ohne diese Prämissen? Kant schreibt: &#x201E;Hält<lb/>
nicht einen rechtschaffenen Mann im grössten Unglücke<lb/>
des Lebens (dem Militärdienst), das er vermeiden konnte,<lb/>
wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können,<lb/>
noch das Bewusstsein aufrecht, dass er die Menschheit in<lb/>
seiner Person doch in ihre Würde erhalten und geehrt<lb/>
habe: dass er sich nicht <hi rendition="#i">vor sich selbst zu schämen</hi> und<lb/>
den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache<lb/>
habe&#x201C;? <note xml:id="id89b" next="id89b89b" place="end" n="89)"/> Hält man Kant noch immer für den weltabge-<lb/>
wandten Stubengelehrten? War er nicht vielmehr halb<lb/>
Opfer, halb Helfer? War das Substrat seiner abstrakt-<lb/>
anonymen Sätze nicht Friedrich Wilhelms Knutensystem?<lb/>
Glaubt man, ohne Grund sei er für die Chamberlain und<lb/>
Konsorten &#x201E;die Braut, darumb man tanzet&#x201C;? Er hat dem<lb/>
preussischen Untertanen, wenn auch mit Skrupel und<lb/>
Vorsicht, das gute Gewissen gegeben, sich knuten und<lb/>
knebeln zu lassen. Er war der zweite Deutsche nach Luther,<lb/>
der das Gewissen verriet; so sublim und abstrakt und so<lb/>
dunkel, dass es gewitzigter Sinne bedarf, hier noch die<lb/>
Urschrift zu lesen. Kant hob die preussische Knutung zur<lb/>
Metaphysik <note xml:id="id90b" next="id90b90b" place="end" n="90)"/>.</p><lb/>
          <p>Verbunden mit dem Erniedrigungsideal, das zum<lb/>
Zynismus führen musste und auch führte, war die branden-<lb/>
burgische Tradition des &#x201E;Sich-formidabel-machens&#x201C;. Der<lb/>
Grosse Kurfürst schreibt: &#x201E;Unsere Voreltern seind der<lb/>
ganzen Welt formidable gewesen und, wenn sie sich nur<lb/>
gerühret, hat alles gezittert&#x201C; <note xml:id="id91b" next="id91b91b" place="end" n="91)"/>. Der Satz wird Haustradition.<lb/>
Friedrich Wilhelm I. legt seinem Nachfolger ans Herz:<lb/>
&#x201E;Mein successor muss sich bearbeiten, dass aus all seinen<lb/>
Provinzen und in spezie Preussen die vom Adel und<lb/>
Grafen in die Armee amploiren und die Kinder in die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[87/0095] Und er fand diese Wurzel, die „Würde“, in der freiwilligen Zustimmung zu Gebot und Befehl: in der Antizipation des Befehls, und er nannte sie „kategorischer Imperativ“ im Namen der „Persönlichkeit“. Ist ein Satz wie der folgende zu verstehen ohne diese Prämissen? Kant schreibt: „Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im grössten Unglücke des Lebens (dem Militärdienst), das er vermeiden konnte, wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können, noch das Bewusstsein aufrecht, dass er die Menschheit in seiner Person doch in ihre Würde erhalten und geehrt habe: dass er sich nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe“? ⁸⁹⁾ Hält man Kant noch immer für den weltabge- wandten Stubengelehrten? War er nicht vielmehr halb Opfer, halb Helfer? War das Substrat seiner abstrakt- anonymen Sätze nicht Friedrich Wilhelms Knutensystem? Glaubt man, ohne Grund sei er für die Chamberlain und Konsorten „die Braut, darumb man tanzet“? Er hat dem preussischen Untertanen, wenn auch mit Skrupel und Vorsicht, das gute Gewissen gegeben, sich knuten und knebeln zu lassen. Er war der zweite Deutsche nach Luther, der das Gewissen verriet; so sublim und abstrakt und so dunkel, dass es gewitzigter Sinne bedarf, hier noch die Urschrift zu lesen. Kant hob die preussische Knutung zur Metaphysik ⁹⁰⁾ . Verbunden mit dem Erniedrigungsideal, das zum Zynismus führen musste und auch führte, war die branden- burgische Tradition des „Sich-formidabel-machens“. Der Grosse Kurfürst schreibt: „Unsere Voreltern seind der ganzen Welt formidable gewesen und, wenn sie sich nur gerühret, hat alles gezittert“ ⁹¹⁾ . Der Satz wird Haustradition. Friedrich Wilhelm I. legt seinem Nachfolger ans Herz: „Mein successor muss sich bearbeiten, dass aus all seinen Provinzen und in spezie Preussen die vom Adel und Grafen in die Armee amploiren und die Kinder in die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/95
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/95>, abgerufen am 27.11.2024.