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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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kritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner
handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein
germanisch-professoraler Leitzordner "Universum" mit meta-
physischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist
alle Moral (die von oben kommt) fertig. "Freiheit ist des
Zwanges Zweck". Klappe auf, klappe zu, dialektischer
Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres,
Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten.

Fichte wurde der Grossahne Chamberlains als einer der
Eifrigsten, die sich um Exaltierung des "deutschen Gedankens"
bemühten. Ach, dass er die Freiheit verwechselte mit der
erlaubten, der "intelligiblen" Freiheit auf Widerruf und auf
Kündigung! "Alle, die entweder selbst schöpferisch und
hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies
nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens ent-
schieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo
der Fluss ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder
die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens
ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern
sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind,
wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk
schlechtweg, Deutsche" 60). Eine schlichte Formel geistiger
Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799)
Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder
sehr aktuell geworden sind: "Es ist nichts gewisser als
das Gewisseste: dass, wenn nicht die Franzosen die un-
geheuerste Uebermacht erringen und in Deutschland, wenigs-
tens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung
durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch
mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien
Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird" 61).
Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner
Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage
von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem
Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische

kritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner
handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein
germanisch-professoraler Leitzordner „Universum“ mit meta-
physischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist
alle Moral (die von oben kommt) fertig. „Freiheit ist des
Zwanges Zweck“. Klappe auf, klappe zu, dialektischer
Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres,
Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten.

Fichte wurde der Grossahne Chamberlains als einer der
Eifrigsten, die sich um Exaltierung des „deutschen Gedankens“
bemühten. Ach, dass er die Freiheit verwechselte mit der
erlaubten, der „intelligiblen“ Freiheit auf Widerruf und auf
Kündigung! „Alle, die entweder selbst schöpferisch und
hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies
nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens ent-
schieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo
der Fluss ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder
die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens
ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern
sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind,
wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk
schlechtweg, Deutsche“ 60). Eine schlichte Formel geistiger
Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799)
Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder
sehr aktuell geworden sind: „Es ist nichts gewisser als
das Gewisseste: dass, wenn nicht die Franzosen die un-
geheuerste Uebermacht erringen und in Deutschland, wenigs-
tens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung
durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch
mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien
Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird“ 61).
Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner
Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage
von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem
Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische

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[74/0082] kritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein germanisch-professoraler Leitzordner „Universum“ mit meta- physischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist alle Moral (die von oben kommt) fertig. „Freiheit ist des Zwanges Zweck“. Klappe auf, klappe zu, dialektischer Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres, Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten. Fichte wurde der Grossahne Chamberlains als einer der Eifrigsten, die sich um Exaltierung des „deutschen Gedankens“ bemühten. Ach, dass er die Freiheit verwechselte mit der erlaubten, der „intelligiblen“ Freiheit auf Widerruf und auf Kündigung! „Alle, die entweder selbst schöpferisch und hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens ent- schieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo der Fluss ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlechtweg, Deutsche“ ⁶⁰⁾ . Eine schlichte Formel geistiger Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799) Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder sehr aktuell geworden sind: „Es ist nichts gewisser als das Gewisseste: dass, wenn nicht die Franzosen die un- geheuerste Uebermacht erringen und in Deutschland, wenigs- tens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird“ ⁶¹⁾ . Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/82>, abgerufen am 23.11.2024.