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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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handenen sinnlichen Seins. Die Wissensgebiete dehnten sich
aus, schwollen an mit tausend Polypenarmen, aber nur des-
halb, weil man rascher rezipierte, als man in Leben und
Blut umsetzte. Universalität wurde Vielseitigkeit aus Mangel
an Standpunkt und Ueberzeugung, an Einheit und Filiation.
Vergebens suchten die Geister zur Kirche zurück. Das
Völkergesetz und Völkergewissen, das universale Bekenntnis
Europas zum Demuts- und Hilfsideal war von Luther zer-
stört, und kein Ersatz war vorhanden. Rührend erscheint die
Bemühung der Jugend, hier überbrücken zu wollen. Da
Religion und Moral widerstreiten, versucht man's poetisch
im schönen Schein. "Die berüchtigte deutsche Nachahmungs-
sucht", schreibt Friedrich Schlegel, "mag hie und da wirklich
den Spott verdienen, mit dem man sie zu brandmarken
pflegt. Im ganzen aber ist Vielseitigkeit ein echter Fortschritt
der ästhetischen Bildung. Die sogenannte Charakterlosigkeit
der Deutschen ist also dem manirierten Charakter anderer
Nationen weit vorzuziehen" 55). In ähnlichem Sinne äussert
sich Wilhelm von Humboldt. Ist aber diese Art Universalität
nicht ein Täuschungsversuch, eine Ausflucht, ein glänzendes
Elend und Desperation? 56) Gerade die Führer der Nation
beweisen es. Goethe sowohl wie Kant und Nietzsche litten
daran, keine klare Gewissensform ihrer Tugenden finden zu
können; selbst die Genies blieben deracine, und sie haben
durch Monstrosität, Dialektik und Vielgliedrigkeit nicht ersetzt,
was ihnen an straffer Einwirkung auf die Nation und die
christliche Basis verloren ging.

Der Mangel an Ueberblick über das Angehäufte, dem
Lehrer und Schüler verfielen, und die Gier nach stets neuer
Materie führten zu Indigestion in Gedanke und Literatur,
und noch heute will niemand einsehen, dass die Sublimie-
rung weniger Urphänome weiterbringt als das faustische
Taumeln von Wunsch zu Genuss. Macht, Dämonie wurden
des Deutschen Ersatz für die Grösse, sein nihilistisches
Credo, recht eigentlich Quell aller Uebel. Er muss zwischen

handenen sinnlichen Seins. Die Wissensgebiete dehnten sich
aus, schwollen an mit tausend Polypenarmen, aber nur des-
halb, weil man rascher rezipierte, als man in Leben und
Blut umsetzte. Universalität wurde Vielseitigkeit aus Mangel
an Standpunkt und Ueberzeugung, an Einheit und Filiation.
Vergebens suchten die Geister zur Kirche zurück. Das
Völkergesetz und Völkergewissen, das universale Bekenntnis
Europas zum Demuts- und Hilfsideal war von Luther zer-
stört, und kein Ersatz war vorhanden. Rührend erscheint die
Bemühung der Jugend, hier überbrücken zu wollen. Da
Religion und Moral widerstreiten, versucht man's poetisch
im schönen Schein. „Die berüchtigte deutsche Nachahmungs-
sucht“, schreibt Friedrich Schlegel, „mag hie und da wirklich
den Spott verdienen, mit dem man sie zu brandmarken
pflegt. Im ganzen aber ist Vielseitigkeit ein echter Fortschritt
der ästhetischen Bildung. Die sogenannte Charakterlosigkeit
der Deutschen ist also dem manirierten Charakter anderer
Nationen weit vorzuziehen“ 55). In ähnlichem Sinne äussert
sich Wilhelm von Humboldt. Ist aber diese Art Universalität
nicht ein Täuschungsversuch, eine Ausflucht, ein glänzendes
Elend und Desperation? 56) Gerade die Führer der Nation
beweisen es. Goethe sowohl wie Kant und Nietzsche litten
daran, keine klare Gewissensform ihrer Tugenden finden zu
können; selbst die Genies blieben déraciné, und sie haben
durch Monstrosität, Dialektik und Vielgliedrigkeit nicht ersetzt,
was ihnen an straffer Einwirkung auf die Nation und die
christliche Basis verloren ging.

Der Mangel an Ueberblick über das Angehäufte, dem
Lehrer und Schüler verfielen, und die Gier nach stets neuer
Materie führten zu Indigestion in Gedanke und Literatur,
und noch heute will niemand einsehen, dass die Sublimie-
rung weniger Urphänome weiterbringt als das faustische
Taumeln von Wunsch zu Genuss. Macht, Dämonie wurden
des Deutschen Ersatz für die Grösse, sein nihilistisches
Credo, recht eigentlich Quell aller Uebel. Er muss zwischen

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[72/0080] handenen sinnlichen Seins. Die Wissensgebiete dehnten sich aus, schwollen an mit tausend Polypenarmen, aber nur des- halb, weil man rascher rezipierte, als man in Leben und Blut umsetzte. Universalität wurde Vielseitigkeit aus Mangel an Standpunkt und Ueberzeugung, an Einheit und Filiation. Vergebens suchten die Geister zur Kirche zurück. Das Völkergesetz und Völkergewissen, das universale Bekenntnis Europas zum Demuts- und Hilfsideal war von Luther zer- stört, und kein Ersatz war vorhanden. Rührend erscheint die Bemühung der Jugend, hier überbrücken zu wollen. Da Religion und Moral widerstreiten, versucht man's poetisch im schönen Schein. „Die berüchtigte deutsche Nachahmungs- sucht“, schreibt Friedrich Schlegel, „mag hie und da wirklich den Spott verdienen, mit dem man sie zu brandmarken pflegt. Im ganzen aber ist Vielseitigkeit ein echter Fortschritt der ästhetischen Bildung. Die sogenannte Charakterlosigkeit der Deutschen ist also dem manirierten Charakter anderer Nationen weit vorzuziehen“ ⁵⁵⁾ . In ähnlichem Sinne äussert sich Wilhelm von Humboldt. Ist aber diese Art Universalität nicht ein Täuschungsversuch, eine Ausflucht, ein glänzendes Elend und Desperation? ⁵⁶⁾ Gerade die Führer der Nation beweisen es. Goethe sowohl wie Kant und Nietzsche litten daran, keine klare Gewissensform ihrer Tugenden finden zu können; selbst die Genies blieben déraciné, und sie haben durch Monstrosität, Dialektik und Vielgliedrigkeit nicht ersetzt, was ihnen an straffer Einwirkung auf die Nation und die christliche Basis verloren ging. Der Mangel an Ueberblick über das Angehäufte, dem Lehrer und Schüler verfielen, und die Gier nach stets neuer Materie führten zu Indigestion in Gedanke und Literatur, und noch heute will niemand einsehen, dass die Sublimie- rung weniger Urphänome weiterbringt als das faustische Taumeln von Wunsch zu Genuss. Macht, Dämonie wurden des Deutschen Ersatz für die Grösse, sein nihilistisches Credo, recht eigentlich Quell aller Uebel. Er muss zwischen

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/80>, abgerufen am 29.11.2024.