eben aus dem Nichts heraus zu Anfängen gekommen zu sein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts engbrüstige Grund- lage der Bildung wurden, die aber im begonnenen 20. Jahr- hundert, als dem Jahrhundert der Beseitigung überspannter Nationalismen und einer neuen politischen Moral, für den Neuaufbau nicht mehr genügen.
Einer der frühesten Scholastiker, Hrabanus Maurus, sagt in seinem Werk "De nihilo et tenebris", das Nicht- sein sei etwas so Erbärmliches, Oedes und Hässliches, dass nicht genug Tränen über einen so traurigen Zustand ver- gossen werden könnten. So mögen unsere Urgrossväter empfunden haben, als sie nach dem Unglück des dreissig- jährigen Krieges mühselig die Elemente zusammensuchten, die eine Regeneration ermöglichten. So mögen sie gedacht haben, als sie, beim Aufbau eines neuen Deutschland, Preussens despotisch-macchiavellistische Hilfe nicht verschmähten. Wir heute aber, nachdem die Nation so schief und auf unmora- lischer Basis errichtet war: Sind wir denn, wenn wir nicht mit den andern sind? Und gibt es wohl etwas Erbärm- licheres, Oederes und Hässlicheres als einen irreligiösen und immoralischen Nationalismus? Luther hat solchen Natio- nalismus geschaffen; die egozentrische Philosophie, der "Idealismus" Fichtes, hat ihn sanktioniert und befestigt 28); der deutsche Generalstab aber suchte ihn 1914 als seiner Weisheit letzten Schluss zur Weltherrschaft zu bringen. Die Vaterländelei, über die Goethe sich lustig machte, verwüstet heute in Deutschlands Namen Europa und droht bereits mit dem nächsten Krieg; denn: "dieser Krieg, wie er auch ausgehen mag, wird keiner einzigen Macht ihre letzten Wünsche stillen, ja nicht einmal einer einzigen ihre Opfer voll ersetzen. Wohl aber werden zu den alten Hassgefühlen neue, durch Schuldfragen geschärfte, erwachsen. Der Natio- nalismus erwacht nicht nur neu auf politischem, sondern vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet" 29).
Wäre dieser Satz richtig, so müsste man an der Zu-
eben aus dem Nichts heraus zu Anfängen gekommen zu sein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts engbrüstige Grund- lage der Bildung wurden, die aber im begonnenen 20. Jahr- hundert, als dem Jahrhundert der Beseitigung überspannter Nationalismen und einer neuen politischen Moral, für den Neuaufbau nicht mehr genügen.
Einer der frühesten Scholastiker, Hrabanus Maurus, sagt in seinem Werk „De nihilo et tenebris“, das Nicht- sein sei etwas so Erbärmliches, Oedes und Hässliches, dass nicht genug Tränen über einen so traurigen Zustand ver- gossen werden könnten. So mögen unsere Urgrossväter empfunden haben, als sie nach dem Unglück des dreissig- jährigen Krieges mühselig die Elemente zusammensuchten, die eine Regeneration ermöglichten. So mögen sie gedacht haben, als sie, beim Aufbau eines neuen Deutschland, Preussens despotisch-macchiavellistische Hilfe nicht verschmähten. Wir heute aber, nachdem die Nation so schief und auf unmora- lischer Basis errichtet war: Sind wir denn, wenn wir nicht mit den andern sind? Und gibt es wohl etwas Erbärm- licheres, Oederes und Hässlicheres als einen irreligiösen und immoralischen Nationalismus? Luther hat solchen Natio- nalismus geschaffen; die egozentrische Philosophie, der „Idealismus“ Fichtes, hat ihn sanktioniert und befestigt 28); der deutsche Generalstab aber suchte ihn 1914 als seiner Weisheit letzten Schluss zur Weltherrschaft zu bringen. Die Vaterländelei, über die Goethe sich lustig machte, verwüstet heute in Deutschlands Namen Europa und droht bereits mit dem nächsten Krieg; denn: „dieser Krieg, wie er auch ausgehen mag, wird keiner einzigen Macht ihre letzten Wünsche stillen, ja nicht einmal einer einzigen ihre Opfer voll ersetzen. Wohl aber werden zu den alten Hassgefühlen neue, durch Schuldfragen geschärfte, erwachsen. Der Natio- nalismus erwacht nicht nur neu auf politischem, sondern vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet“ 29).
Wäre dieser Satz richtig, so müsste man an der Zu-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0071"n="63"/>
eben aus dem Nichts heraus zu Anfängen gekommen zu<lb/>
sein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts engbrüstige Grund-<lb/>
lage der Bildung wurden, die aber im begonnenen 20. Jahr-<lb/>
hundert, als dem Jahrhundert der Beseitigung überspannter<lb/>
Nationalismen und einer neuen politischen Moral, für den<lb/>
Neuaufbau nicht mehr genügen.</p><lb/><p>Einer der frühesten Scholastiker, Hrabanus Maurus,<lb/>
sagt in seinem Werk „De nihilo et tenebris“, das Nicht-<lb/>
sein sei etwas so Erbärmliches, Oedes und Hässliches, dass<lb/>
nicht genug Tränen über einen so traurigen Zustand ver-<lb/>
gossen werden könnten. So mögen unsere Urgrossväter<lb/>
empfunden haben, als sie nach dem Unglück des dreissig-<lb/>
jährigen Krieges mühselig die Elemente zusammensuchten,<lb/>
die eine Regeneration ermöglichten. So mögen sie gedacht<lb/>
haben, als sie, beim Aufbau eines neuen Deutschland, Preussens<lb/>
despotisch-macchiavellistische Hilfe nicht verschmähten. Wir<lb/>
heute aber, nachdem die Nation so schief und auf unmora-<lb/>
lischer Basis errichtet war: Sind wir denn, wenn wir nicht<lb/>
mit den andern sind? Und gibt es wohl etwas Erbärm-<lb/>
licheres, Oederes und Hässlicheres als einen irreligiösen<lb/>
und immoralischen Nationalismus? Luther hat solchen Natio-<lb/>
nalismus geschaffen; die egozentrische Philosophie, der<lb/>„Idealismus“ Fichtes, hat ihn sanktioniert und befestigt <notexml:id="id28b"next="id28b28b"place="end"n="28)"/>;<lb/>
der deutsche Generalstab aber suchte ihn 1914 als seiner<lb/>
Weisheit letzten Schluss zur Weltherrschaft zu bringen. Die<lb/>
Vaterländelei, über die Goethe sich lustig machte, verwüstet<lb/>
heute in Deutschlands Namen Europa und droht bereits<lb/>
mit dem nächsten Krieg; denn: „dieser Krieg, wie er auch<lb/>
ausgehen mag, wird keiner einzigen Macht ihre letzten<lb/>
Wünsche stillen, ja nicht einmal einer einzigen ihre Opfer<lb/>
voll ersetzen. Wohl aber werden zu den alten Hassgefühlen<lb/>
neue, durch Schuldfragen geschärfte, erwachsen. Der Natio-<lb/>
nalismus erwacht nicht nur neu auf politischem, sondern<lb/>
vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet“<notexml:id="id29b"next="id29b29b"place="end"n="29)"/>.</p><lb/><p>Wäre dieser Satz richtig, so müsste man an der Zu-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[63/0071]
eben aus dem Nichts heraus zu Anfängen gekommen zu
sein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts engbrüstige Grund-
lage der Bildung wurden, die aber im begonnenen 20. Jahr-
hundert, als dem Jahrhundert der Beseitigung überspannter
Nationalismen und einer neuen politischen Moral, für den
Neuaufbau nicht mehr genügen.
Einer der frühesten Scholastiker, Hrabanus Maurus,
sagt in seinem Werk „De nihilo et tenebris“, das Nicht-
sein sei etwas so Erbärmliches, Oedes und Hässliches, dass
nicht genug Tränen über einen so traurigen Zustand ver-
gossen werden könnten. So mögen unsere Urgrossväter
empfunden haben, als sie nach dem Unglück des dreissig-
jährigen Krieges mühselig die Elemente zusammensuchten,
die eine Regeneration ermöglichten. So mögen sie gedacht
haben, als sie, beim Aufbau eines neuen Deutschland, Preussens
despotisch-macchiavellistische Hilfe nicht verschmähten. Wir
heute aber, nachdem die Nation so schief und auf unmora-
lischer Basis errichtet war: Sind wir denn, wenn wir nicht
mit den andern sind? Und gibt es wohl etwas Erbärm-
licheres, Oederes und Hässlicheres als einen irreligiösen
und immoralischen Nationalismus? Luther hat solchen Natio-
nalismus geschaffen; die egozentrische Philosophie, der
„Idealismus“ Fichtes, hat ihn sanktioniert und befestigt
²⁸⁾
;
der deutsche Generalstab aber suchte ihn 1914 als seiner
Weisheit letzten Schluss zur Weltherrschaft zu bringen. Die
Vaterländelei, über die Goethe sich lustig machte, verwüstet
heute in Deutschlands Namen Europa und droht bereits
mit dem nächsten Krieg; denn: „dieser Krieg, wie er auch
ausgehen mag, wird keiner einzigen Macht ihre letzten
Wünsche stillen, ja nicht einmal einer einzigen ihre Opfer
voll ersetzen. Wohl aber werden zu den alten Hassgefühlen
neue, durch Schuldfragen geschärfte, erwachsen. Der Natio-
nalismus erwacht nicht nur neu auf politischem, sondern
vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet“
²⁹⁾
.
Wäre dieser Satz richtig, so müsste man an der Zu-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/71>, abgerufen am 30.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.