Imprimatur verweigert. Durch Kabinettsordre vom Oktober 1794 erhielt der Verfasser einen Verweis wegen "Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums", und den theologischen und philosophischen Dozenten der Königs- berger Universität wurde untersagt, über Kants Werke Vorlesungen zu halten.
Die intelligible Freiheit war in Widerspruch geraten mit der Zeit, der wir alle untertan sind. Zwischen Idee und Erfahrung zeigte sich eine Kluft. Wie stellte sich Kant dazu? Es gab Friedrich Wilhelm II. das schriftliche Versprechen, "sich aller öffentlichen Vorträge, die christliche Religion betreffend, in Vorlesungen und Schriften als Sr. Majestät getreuester Untertan, zu enthalten". In seinem Nachlass fand man einen Zettel des Inhalts: "Widerruf und Verleugnung seiner inneren Ueberzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen in einem Fall wie dem gegenwärtigen ist Untertanspflicht." Das war als Ueberbrückung der Idee mit der Erfahrungs- welt zweifellos praktische Vernunft. Die intelligible Freiheit blieb intakt. Praktische Vernunft dieser Art aber wurde in Preussen vom Könige doziert.
Man hat Kant einen "Alleszermalmer" genannt (Moses Mendelsohn). Man nannte auch Beethoven so (Richard Wag- ner). Man nennt heute Hindenburg so. Aber man sollte ein- sehen, dass nicht im Zermalmen sich Stärke verrät, sondern im Lösen und Freimachen, im Gleichgewicht. Eine Kraft, der ihre Umgebung nicht das Gleichgewicht zu bieten ver- mag, ist eine verderbliche Kraft; ihre Intentionen mögen edel und human sein. Die Ueberernährung mit Erkenntnis- theorie seit Kant verstrickte die ganze Nation in abstrakte Spekulationen von äusserster Schädlichkeit für die gesunde Verdauung der Köpfe. Man höre eine deutsche Vorlesung über Logik, blättere in den erkenntnistheoretischen Klitte- rungen unserer unaussterblichen patentierten Philosophie- beamten oder versuche zu lesen ein Buch wie des Aktien-
Imprimatur verweigert. Durch Kabinettsordre vom Oktober 1794 erhielt der Verfasser einen Verweis wegen „Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums“, und den theologischen und philosophischen Dozenten der Königs- berger Universität wurde untersagt, über Kants Werke Vorlesungen zu halten.
Die intelligible Freiheit war in Widerspruch geraten mit der Zeit, der wir alle untertan sind. Zwischen Idee und Erfahrung zeigte sich eine Kluft. Wie stellte sich Kant dazu? Es gab Friedrich Wilhelm II. das schriftliche Versprechen, „sich aller öffentlichen Vorträge, die christliche Religion betreffend, in Vorlesungen und Schriften als Sr. Majestät getreuester Untertan, zu enthalten“. In seinem Nachlass fand man einen Zettel des Inhalts: „Widerruf und Verleugnung seiner inneren Ueberzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen in einem Fall wie dem gegenwärtigen ist Untertanspflicht.“ Das war als Ueberbrückung der Idee mit der Erfahrungs- welt zweifellos praktische Vernunft. Die intelligible Freiheit blieb intakt. Praktische Vernunft dieser Art aber wurde in Preussen vom Könige doziert.
Man hat Kant einen „Alleszermalmer“ genannt (Moses Mendelsohn). Man nannte auch Beethoven so (Richard Wag- ner). Man nennt heute Hindenburg so. Aber man sollte ein- sehen, dass nicht im Zermalmen sich Stärke verrät, sondern im Lösen und Freimachen, im Gleichgewicht. Eine Kraft, der ihre Umgebung nicht das Gleichgewicht zu bieten ver- mag, ist eine verderbliche Kraft; ihre Intentionen mögen edel und human sein. Die Ueberernährung mit Erkenntnis- theorie seit Kant verstrickte die ganze Nation in abstrakte Spekulationen von äusserster Schädlichkeit für die gesunde Verdauung der Köpfe. Man höre eine deutsche Vorlesung über Logik, blättere in den erkenntnistheoretischen Klitte- rungen unserer unaussterblichen patentierten Philosophie- beamten oder versuche zu lesen ein Buch wie des Aktien-
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Imprimatur verweigert. Durch Kabinettsordre vom Oktober
1794 erhielt der Verfasser einen Verweis wegen „Entstellung
und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren
der Heiligen Schrift und des Christentums“, und den
theologischen und philosophischen Dozenten der Königs-
berger Universität wurde untersagt, über Kants Werke
Vorlesungen zu halten.
Die intelligible Freiheit war in Widerspruch geraten mit
der Zeit, der wir alle untertan sind. Zwischen Idee und
Erfahrung zeigte sich eine Kluft. Wie stellte sich Kant dazu?
Es gab Friedrich Wilhelm II. das schriftliche Versprechen,
„sich aller öffentlichen Vorträge, die christliche Religion
betreffend, in Vorlesungen und Schriften als Sr. Majestät
getreuester Untertan, zu enthalten“. In seinem Nachlass fand
man einen Zettel des Inhalts: „Widerruf und Verleugnung
seiner inneren Ueberzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen
in einem Fall wie dem gegenwärtigen ist Untertanspflicht.“
Das war als Ueberbrückung der Idee mit der Erfahrungs-
welt zweifellos praktische Vernunft. Die intelligible Freiheit
blieb intakt. Praktische Vernunft dieser Art aber wurde in
Preussen vom Könige doziert.
Man hat Kant einen „Alleszermalmer“ genannt (Moses
Mendelsohn). Man nannte auch Beethoven so (Richard Wag-
ner). Man nennt heute Hindenburg so. Aber man sollte ein-
sehen, dass nicht im Zermalmen sich Stärke verrät, sondern
im Lösen und Freimachen, im Gleichgewicht. Eine Kraft,
der ihre Umgebung nicht das Gleichgewicht zu bieten ver-
mag, ist eine verderbliche Kraft; ihre Intentionen mögen
edel und human sein. Die Ueberernährung mit Erkenntnis-
theorie seit Kant verstrickte die ganze Nation in abstrakte
Spekulationen von äusserster Schädlichkeit für die gesunde
Verdauung der Köpfe. Man höre eine deutsche Vorlesung
über Logik, blättere in den erkenntnistheoretischen Klitte-
rungen unserer unaussterblichen patentierten Philosophie-
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/68>, abgerufen am 30.11.2024.
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