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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Antichristlichkeit der kantischen Philosophie. "Satan trennt,
Christus vereint", sagt Baader. So aber trennte der ganze
von Moral und Sozietät absehende Kult der Experimental-
wissenschaft, deren vergötterte Methode die Verstandesanalyse
und deren Folge die Zersetzung ist. In Deutschland wütete
die "objektive Wissenschaft" zumeist. Man hatte am meisten
Ursache, Moral und Sozietät ungepflügt auf sich beruhen zu
lassen. Hier war die abstrakte Wissensdoktrin zu hause, und das
Land der höchst entwickelten Erkenntnistheorie und Technik
schlug den Record der Immoralität, als die Zeiten reif
geworden waren. Nirgends so schlimm als in Deutschland
zeigte sich der Verlust des Einklangs zwischen Intellekt
und sozialem Empfinden, zwischen menschlicher und
theoretischer Kritik. Der Intellektuelle aus Metier, der
fachgelehrte Teufel, dies Nonplusultra einer deutschen
"Kultur", die sich berüchtigt machte, ohne die Wurzel
ihrer Abscheulichkeit auch nur zu ahnen, -- von Kants "Kritik
der reinen Vernunft" sind sie entsprungen.

Unter Kant wird der gereizte Verstand zur Geheimpolizei
gegen Gott, das Genie und alles naive Geschehen. Die
Philosophie wollte Dinge wissen und besitzen, die ihr
ewig versagt bleiben werden. "Die Philosophie ist nur eine
Methode", sagt Barbey d'Aurevilly 21). Der Katheder ward
zum Berg Sinai, wo Gott sich unterhielt mit dem Herrn
Professor. Kanonische Buchweisheit verbreitete das Vorurteil,
dass nur der Gelehrte, nicht aber auch der Bauer philo-
sophieren könne. Man stelle Kant neben einen russischen
Muschik ins freie Licht und sehe zu, wer Recht behält;
welcher von beiden dem Sittengesetz und dem Sternenhimmel
nähersteht.

Der Rationalismus hatte, als Kant auftrat, bereits eine
Tradition. Locke, Hume, Spinoza hatten tiefgründige Unter-
suchungen über die Vervollkommnung des Verstandes
angestellt, ohne dass es geglückt war, eine Moral auf
Verstandesprinzipien zu gründen. Die Titel von Kants Haupt-

Antichristlichkeit der kantischen Philosophie. „Satan trennt,
Christus vereint“, sagt Baader. So aber trennte der ganze
von Moral und Sozietät absehende Kult der Experimental-
wissenschaft, deren vergötterte Methode die Verstandesanalyse
und deren Folge die Zersetzung ist. In Deutschland wütete
die „objektive Wissenschaft“ zumeist. Man hatte am meisten
Ursache, Moral und Sozietät ungepflügt auf sich beruhen zu
lassen. Hier war die abstrakte Wissensdoktrin zu hause, und das
Land der höchst entwickelten Erkenntnistheorie und Technik
schlug den Record der Immoralität, als die Zeiten reif
geworden waren. Nirgends so schlimm als in Deutschland
zeigte sich der Verlust des Einklangs zwischen Intellekt
und sozialem Empfinden, zwischen menschlicher und
theoretischer Kritik. Der Intellektuelle aus Métier, der
fachgelehrte Teufel, dies Nonplusultra einer deutschen
„Kultur“, die sich berüchtigt machte, ohne die Wurzel
ihrer Abscheulichkeit auch nur zu ahnen, — von Kants „Kritik
der reinen Vernunft“ sind sie entsprungen.

Unter Kant wird der gereizte Verstand zur Geheimpolizei
gegen Gott, das Genie und alles naive Geschehen. Die
Philosophie wollte Dinge wissen und besitzen, die ihr
ewig versagt bleiben werden. „Die Philosophie ist nur eine
Methode“, sagt Barbey d'Aurevilly 21). Der Katheder ward
zum Berg Sinai, wo Gott sich unterhielt mit dem Herrn
Professor. Kanonische Buchweisheit verbreitete das Vorurteil,
dass nur der Gelehrte, nicht aber auch der Bauer philo-
sophieren könne. Man stelle Kant neben einen russischen
Muschik ins freie Licht und sehe zu, wer Recht behält;
welcher von beiden dem Sittengesetz und dem Sternenhimmel
nähersteht.

Der Rationalismus hatte, als Kant auftrat, bereits eine
Tradition. Locke, Hume, Spinoza hatten tiefgründige Unter-
suchungen über die Vervollkommnung des Verstandes
angestellt, ohne dass es geglückt war, eine Moral auf
Verstandesprinzipien zu gründen. Die Titel von Kants Haupt-

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[58/0066] Antichristlichkeit der kantischen Philosophie. „Satan trennt, Christus vereint“, sagt Baader. So aber trennte der ganze von Moral und Sozietät absehende Kult der Experimental- wissenschaft, deren vergötterte Methode die Verstandesanalyse und deren Folge die Zersetzung ist. In Deutschland wütete die „objektive Wissenschaft“ zumeist. Man hatte am meisten Ursache, Moral und Sozietät ungepflügt auf sich beruhen zu lassen. Hier war die abstrakte Wissensdoktrin zu hause, und das Land der höchst entwickelten Erkenntnistheorie und Technik schlug den Record der Immoralität, als die Zeiten reif geworden waren. Nirgends so schlimm als in Deutschland zeigte sich der Verlust des Einklangs zwischen Intellekt und sozialem Empfinden, zwischen menschlicher und theoretischer Kritik. Der Intellektuelle aus Métier, der fachgelehrte Teufel, dies Nonplusultra einer deutschen „Kultur“, die sich berüchtigt machte, ohne die Wurzel ihrer Abscheulichkeit auch nur zu ahnen, — von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ sind sie entsprungen. Unter Kant wird der gereizte Verstand zur Geheimpolizei gegen Gott, das Genie und alles naive Geschehen. Die Philosophie wollte Dinge wissen und besitzen, die ihr ewig versagt bleiben werden. „Die Philosophie ist nur eine Methode“, sagt Barbey d'Aurevilly ²¹⁾ . Der Katheder ward zum Berg Sinai, wo Gott sich unterhielt mit dem Herrn Professor. Kanonische Buchweisheit verbreitete das Vorurteil, dass nur der Gelehrte, nicht aber auch der Bauer philo- sophieren könne. Man stelle Kant neben einen russischen Muschik ins freie Licht und sehe zu, wer Recht behält; welcher von beiden dem Sittengesetz und dem Sternenhimmel nähersteht. Der Rationalismus hatte, als Kant auftrat, bereits eine Tradition. Locke, Hume, Spinoza hatten tiefgründige Unter- suchungen über die Vervollkommnung des Verstandes angestellt, ohne dass es geglückt war, eine Moral auf Verstandesprinzipien zu gründen. Die Titel von Kants Haupt-

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/66>, abgerufen am 30.11.2024.