Eine feste Burg ist unser Protestantismus: das ist von nun an das nationale Motto, an dem die Geister scheitern. Eine pseudologische Bussdoktrin grassiert. Eine Selbst- verfinsterung, die für tiefe Verworfenheit hält, was den Wohlstand der Sinne fördert, -- pervertiert die Instinkte, verdirbt den freien Blick, die spontane Erkenntnis von Gut und Böse, die Einsicht ins Equilibre der angeborenen sittlichen Kräfte 1). Die Nation hat längst das Lachen verlernt. Grabes- oden und Nekrologien, Busstagsmusik, Choräle, Kantaten bekämpfen den leidigen Teufel der "Sünde" und Sinnlichkeit, und die betrübten Lebensläufe der deutschen Musikanten, die Matthisons "Ehrenpforte" uns überliefert hat, zeugen von den Kümmerlichkeiten und Nachwehen des dreissig- jährigen Krieges. "Man will wissen", sagt Lichtenberg, "dass im ganzen Lande seit fünfhundert Jahren niemand vor Freuden gestorben wäre." 2)
Der Pietismus regiert, der Kanzelredner, die Salbaderei. Der Pietismus leitet die protestantische Orthodoxie hinüber in protestantische Aufklärung. Philipp Jacob Spener, der Grossvater des Pietismus, hat aus Erbaulichkeitsgründen eine Abneigung gegen das streng wissenschaftliche Denken. August Hermann Francke ist im Unterschied von Spener ein "Herren- und Tatenmensch", rücksichtslos als Agitator, unverträglich als Kollege, unversöhnlich als Feind, herrsch- süchtig als Organisator. Ein pietistischer Uebermensch, so schildert ihn sein Chronist. Es ist die Zeit der Bibelkränzchen und Senfkornorden, des philadelphischen Konventikelwesens. Die Bibel gilt als vollendetes System der Weissagung und
ZWEITES KAPITEL
1.
Eine feste Burg ist unser Protestantismus: das ist von nun an das nationale Motto, an dem die Geister scheitern. Eine pseudologische Bussdoktrin grassiert. Eine Selbst- verfinsterung, die für tiefe Verworfenheit hält, was den Wohlstand der Sinne fördert, — pervertiert die Instinkte, verdirbt den freien Blick, die spontane Erkenntnis von Gut und Böse, die Einsicht ins Equilibre der angeborenen sittlichen Kräfte 1). Die Nation hat längst das Lachen verlernt. Grabes- oden und Nekrologien, Busstagsmusik, Choräle, Kantaten bekämpfen den leidigen Teufel der „Sünde“ und Sinnlichkeit, und die betrübten Lebensläufe der deutschen Musikanten, die Matthisons „Ehrenpforte“ uns überliefert hat, zeugen von den Kümmerlichkeiten und Nachwehen des dreissig- jährigen Krieges. „Man will wissen“, sagt Lichtenberg, „dass im ganzen Lande seit fünfhundert Jahren niemand vor Freuden gestorben wäre.“ 2)
Der Pietismus regiert, der Kanzelredner, die Salbaderei. Der Pietismus leitet die protestantische Orthodoxie hinüber in protestantische Aufklärung. Philipp Jacob Spener, der Grossvater des Pietismus, hat aus Erbaulichkeitsgründen eine Abneigung gegen das streng wissenschaftliche Denken. August Hermann Francke ist im Unterschied von Spener ein „Herren- und Tatenmensch“, rücksichtslos als Agitator, unverträglich als Kollege, unversöhnlich als Feind, herrsch- süchtig als Organisator. Ein pietistischer Uebermensch, so schildert ihn sein Chronist. Es ist die Zeit der Bibelkränzchen und Senfkornorden, des philadelphischen Konventikelwesens. Die Bibel gilt als vollendetes System der Weissagung und
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ZWEITES KAPITEL
1.
Eine feste Burg ist unser Protestantismus: das ist von
nun an das nationale Motto, an dem die Geister scheitern.
Eine pseudologische Bussdoktrin grassiert. Eine Selbst-
verfinsterung, die für tiefe Verworfenheit hält, was den
Wohlstand der Sinne fördert, — pervertiert die Instinkte,
verdirbt den freien Blick, die spontane Erkenntnis von Gut
und Böse, die Einsicht ins Equilibre der angeborenen sittlichen
Kräfte
¹⁾
. Die Nation hat längst das Lachen verlernt. Grabes-
oden und Nekrologien, Busstagsmusik, Choräle, Kantaten
bekämpfen den leidigen Teufel der „Sünde“ und Sinnlichkeit,
und die betrübten Lebensläufe der deutschen Musikanten,
die Matthisons „Ehrenpforte“ uns überliefert hat, zeugen
von den Kümmerlichkeiten und Nachwehen des dreissig-
jährigen Krieges. „Man will wissen“, sagt Lichtenberg, „dass
im ganzen Lande seit fünfhundert Jahren niemand vor
Freuden gestorben wäre.“
²⁾
Der Pietismus regiert, der Kanzelredner, die Salbaderei.
Der Pietismus leitet die protestantische Orthodoxie hinüber
in protestantische Aufklärung. Philipp Jacob Spener, der
Grossvater des Pietismus, hat aus Erbaulichkeitsgründen
eine Abneigung gegen das streng wissenschaftliche Denken.
August Hermann Francke ist im Unterschied von Spener
ein „Herren- und Tatenmensch“, rücksichtslos als Agitator,
unverträglich als Kollege, unversöhnlich als Feind, herrsch-
süchtig als Organisator. Ein pietistischer Uebermensch, so
schildert ihn sein Chronist. Es ist die Zeit der Bibelkränzchen
und Senfkornorden, des philadelphischen Konventikelwesens.
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/60>, abgerufen am 21.11.2024.
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