Bücher zu verlesen geben" 48). Luther hatte in einem Send- schreiben an die Fürsten von Sachsen die Landesherren aufgefordert, dass sie "mit Ernst sollten zu solchem Stürmen und Schwärmen tun, auf dass allein mit dem Wort Gottes in diesen Sachen gehandelt und Ursach des Aufruhrs verhütet werde". Denn: "Es seien nicht Christen, die über das Wort auch mit Fäusten dran wöllen und nicht vielmehr alles zu leiden bereit sind, wenn sie sich gleich zehn heiliger Geist voll und abervoll rühmten" 49). Nur durch Flucht kam Münzer seiner Verhaftung zuvor.
9.
Und es muss gesprochen werden von den Bauernkriegen selbst. Wenn der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, nach Friedrich Schlegel "der elastische Punkt der progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte" ist, Enthusiasmus aber "das lichte Chaos von göttlichen Gedanken und Gefühlen" 50), so steht Thomas Münzer am Beginne einer Entwicklung, die heute keineswegs abgelaufen ist, sondern deren Faden wir verloren haben. Wem sind wir verantwortlich? Einem Willkür-Regiment oder der Menschheit? Einer mörderischen Obrigkeit oder der Verbrüderung, Solidarität, Grösse und Würde des Daseins?
Abt Joachims revolutionäre Idee wurde in Thomas Münzer zur revolutionären Tat. Luthers Denunziation der Schwarm- und Sturmgeister war eine Ablehnung des Enthusiasmus. Er gestand ihnen Geist zu, aber er sah keine göttlichen, sondern satanische Kräfte in ihnen.
"Wir kranken daran, nicht von Grund aus krank sein zu können. Wir können zu wenig Leid empfinden." In diesem Ausspruch eines heutigen Deutschen 51) hat man die ganze Ursache der deutschen Barbarei. Denn was ist barbarisch, wenn nicht die Unfähigkeit, leiden und mitleiden zu können? Und was ist satanisch, wenn nicht der Wille,
Bücher zu verlesen geben“ 48). Luther hatte in einem Send- schreiben an die Fürsten von Sachsen die Landesherren aufgefordert, dass sie „mit Ernst sollten zu solchem Stürmen und Schwärmen tun, auf dass allein mit dem Wort Gottes in diesen Sachen gehandelt und Ursach des Aufruhrs verhütet werde“. Denn: „Es seien nicht Christen, die über das Wort auch mit Fäusten dran wöllen und nicht vielmehr alles zu leiden bereit sind, wenn sie sich gleich zehn heiliger Geist voll und abervoll rühmten“ 49). Nur durch Flucht kam Münzer seiner Verhaftung zuvor.
9.
Und es muss gesprochen werden von den Bauernkriegen selbst. Wenn der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, nach Friedrich Schlegel „der elastische Punkt der progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte“ ist, Enthusiasmus aber „das lichte Chaos von göttlichen Gedanken und Gefühlen“ 50), so steht Thomas Münzer am Beginne einer Entwicklung, die heute keineswegs abgelaufen ist, sondern deren Faden wir verloren haben. Wem sind wir verantwortlich? Einem Willkür-Regiment oder der Menschheit? Einer mörderischen Obrigkeit oder der Verbrüderung, Solidarität, Grösse und Würde des Daseins?
Abt Joachims revolutionäre Idee wurde in Thomas Münzer zur revolutionären Tat. Luthers Denunziation der Schwarm- und Sturmgeister war eine Ablehnung des Enthusiasmus. Er gestand ihnen Geist zu, aber er sah keine göttlichen, sondern satanische Kräfte in ihnen.
„Wir kranken daran, nicht von Grund aus krank sein zu können. Wir können zu wenig Leid empfinden.“ In diesem Ausspruch eines heutigen Deutschen 51) hat man die ganze Ursache der deutschen Barbarei. Denn was ist barbarisch, wenn nicht die Unfähigkeit, leiden und mitleiden zu können? Und was ist satanisch, wenn nicht der Wille,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0051"n="43"/><lb/>
Bücher zu verlesen geben“<notexml:id="id48a"next="id48a48a"place="end"n="48)"/>. Luther hatte in einem Send-<lb/>
schreiben an die Fürsten von Sachsen die Landesherren<lb/>
aufgefordert, dass sie „mit Ernst sollten zu solchem Stürmen<lb/>
und Schwärmen tun, auf dass allein mit dem Wort Gottes<lb/>
in diesen Sachen gehandelt und Ursach des Aufruhrs<lb/>
verhütet werde“. Denn: „Es seien nicht Christen, die über<lb/>
das Wort auch mit Fäusten dran wöllen und nicht vielmehr<lb/>
alles zu leiden bereit sind, wenn sie sich gleich zehn<lb/>
heiliger Geist voll und abervoll rühmten“<notexml:id="id49a"next="id49a49a"place="end"n="49)"/>. Nur durch<lb/>
Flucht kam Münzer seiner Verhaftung zuvor.</p><lb/></div><divn="2"><head>9.</head><lb/><p>Und es muss gesprochen werden von den Bauernkriegen<lb/>
selbst. Wenn der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes<lb/>
zu realisieren, nach Friedrich Schlegel „der elastische Punkt<lb/>
der progressiven Bildung und der Anfang der modernen<lb/>
Geschichte“ ist, Enthusiasmus aber „das lichte Chaos von<lb/>
göttlichen Gedanken und Gefühlen“<notexml:id="id50a"next="id50a50a"place="end"n="50)"/>, so steht Thomas<lb/>
Münzer am Beginne einer Entwicklung, die heute keineswegs<lb/>
abgelaufen ist, sondern deren Faden wir verloren haben.<lb/>
Wem sind wir verantwortlich? Einem Willkür-Regiment<lb/>
oder der Menschheit? Einer mörderischen Obrigkeit oder der<lb/>
Verbrüderung, Solidarität, Grösse und Würde des Daseins?</p><lb/><p>Abt Joachims revolutionäre Idee wurde in Thomas<lb/>
Münzer zur revolutionären Tat. Luthers Denunziation der<lb/>
Schwarm- und Sturmgeister war eine Ablehnung des<lb/>
Enthusiasmus. Er gestand ihnen Geist zu, aber er sah keine<lb/>
göttlichen, sondern satanische Kräfte in ihnen.</p><lb/><p>„Wir kranken daran, nicht von Grund aus krank sein<lb/>
zu können. Wir können zu wenig Leid empfinden.“ In<lb/>
diesem Ausspruch eines heutigen Deutschen <notexml:id="id51a"next="id51a51a"place="end"n="51)"/> hat man die<lb/>
ganze Ursache der deutschen Barbarei. Denn was ist<lb/>
barbarisch, wenn nicht die Unfähigkeit, leiden und mitleiden<lb/>
zu können? Und was ist satanisch, wenn nicht der Wille,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[43/0051]
Bücher zu verlesen geben“
⁴⁸⁾
. Luther hatte in einem Send-
schreiben an die Fürsten von Sachsen die Landesherren
aufgefordert, dass sie „mit Ernst sollten zu solchem Stürmen
und Schwärmen tun, auf dass allein mit dem Wort Gottes
in diesen Sachen gehandelt und Ursach des Aufruhrs
verhütet werde“. Denn: „Es seien nicht Christen, die über
das Wort auch mit Fäusten dran wöllen und nicht vielmehr
alles zu leiden bereit sind, wenn sie sich gleich zehn
heiliger Geist voll und abervoll rühmten“
⁴⁹⁾
. Nur durch
Flucht kam Münzer seiner Verhaftung zuvor.
9.
Und es muss gesprochen werden von den Bauernkriegen
selbst. Wenn der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes
zu realisieren, nach Friedrich Schlegel „der elastische Punkt
der progressiven Bildung und der Anfang der modernen
Geschichte“ ist, Enthusiasmus aber „das lichte Chaos von
göttlichen Gedanken und Gefühlen“
⁵⁰⁾
, so steht Thomas
Münzer am Beginne einer Entwicklung, die heute keineswegs
abgelaufen ist, sondern deren Faden wir verloren haben.
Wem sind wir verantwortlich? Einem Willkür-Regiment
oder der Menschheit? Einer mörderischen Obrigkeit oder der
Verbrüderung, Solidarität, Grösse und Würde des Daseins?
Abt Joachims revolutionäre Idee wurde in Thomas
Münzer zur revolutionären Tat. Luthers Denunziation der
Schwarm- und Sturmgeister war eine Ablehnung des
Enthusiasmus. Er gestand ihnen Geist zu, aber er sah keine
göttlichen, sondern satanische Kräfte in ihnen.
„Wir kranken daran, nicht von Grund aus krank sein
zu können. Wir können zu wenig Leid empfinden.“ In
diesem Ausspruch eines heutigen Deutschen
⁵¹⁾
hat man die
ganze Ursache der deutschen Barbarei. Denn was ist
barbarisch, wenn nicht die Unfähigkeit, leiden und mitleiden
zu können? Und was ist satanisch, wenn nicht der Wille,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/51>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.