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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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das Werk kann nicht nachdrücklich genug empfohlen
werden 4). 1517 wurden durch die Tat eines politisch
und geistig gleich unvollendeten Mönchs Europa und die
christliche Kultureinheit zerrissen, und dieser Luther gilt
heute der grossdeutschen Feudalpolitik als erster europä-
ischer Exponent ihres ,divide et impera' 5). Heute, vier Jahr-
hunderte später, hiesse es Europa nur dürftig zusammen-
flicken, wollte man den Glauben an die offiziellen Heroen
und Propheten bestehen lassen.

Der Ideenstreit um eine neue Menschheit ist entbrannt,
und in der Lösung der Menschheitsfrage wird auch die
politische beschlossen liegen.

Die mittelalterlichen Probleme sind noch heute nicht
ausgetragen. Noch fehlt Europa eine neue Hierarchie, eine
Hierarchie von Geistern, fähig und stark genug, jene mittel-
alterliche geistliche Hierarchie zu ersetzen; eine Rangleiter
der Leistungen und Vermögen, sowohl zwischen den
Völkern wie zwischen den Individuen; eine unsichtbar
abgestufte geistige und moralische Gesellschaft, fähig, wieder
die Oberhand zu erlangen über den Satanismus der in
rudimentären Einrichtungen und Formeln vereinigten Pro-
fanität, die heute ihre entsetzliche Todesorgie feiert. Dann
erst wird das Mittelalter überwunden sein.

Uns Deutsche führt die Beteiligung an dieser Aufgabe,
der eine Elite hervorragender Männer des letzten Jahr-
hunderts gedient hat, tief bis ins Mittelalter und in die Zeit
Luthers zurück. Die Revision unserer intellektuellen Ge-
schichte soll uns neue Impulse geben, und manches wird
fallen müssen, an das wir glaubten und glauben gemacht
wurden.

Ein neues Gut und Böse. Neue Gewissenskämpfe.
Göttlich und Teuflisch nicht mehr klerikales Symbol, doch
deshalb beileibe nicht Hohn und Verachtung. Die Aufgabe
aber dieser Hierarchie aller gutgesinnten Geister und Werke
soll sein: eine Syntax der neuen Gottes- und Menschen-

das Werk kann nicht nachdrücklich genug empfohlen
werden 4). 1517 wurden durch die Tat eines politisch
und geistig gleich unvollendeten Mönchs Europa und die
christliche Kultureinheit zerrissen, und dieser Luther gilt
heute der grossdeutschen Feudalpolitik als erster europä-
ischer Exponent ihres ‚divide et impera‘ 5). Heute, vier Jahr-
hunderte später, hiesse es Europa nur dürftig zusammen-
flicken, wollte man den Glauben an die offiziellen Heroen
und Propheten bestehen lassen.

Der Ideenstreit um eine neue Menschheit ist entbrannt,
und in der Lösung der Menschheitsfrage wird auch die
politische beschlossen liegen.

Die mittelalterlichen Probleme sind noch heute nicht
ausgetragen. Noch fehlt Europa eine neue Hierarchie, eine
Hierarchie von Geistern, fähig und stark genug, jene mittel-
alterliche geistliche Hierarchie zu ersetzen; eine Rangleiter
der Leistungen und Vermögen, sowohl zwischen den
Völkern wie zwischen den Individuen; eine unsichtbar
abgestufte geistige und moralische Gesellschaft, fähig, wieder
die Oberhand zu erlangen über den Satanismus der in
rudimentären Einrichtungen und Formeln vereinigten Pro-
fanität, die heute ihre entsetzliche Todesorgie feiert. Dann
erst wird das Mittelalter überwunden sein.

Uns Deutsche führt die Beteiligung an dieser Aufgabe,
der eine Elite hervorragender Männer des letzten Jahr-
hunderts gedient hat, tief bis ins Mittelalter und in die Zeit
Luthers zurück. Die Revision unserer intellektuellen Ge-
schichte soll uns neue Impulse geben, und manches wird
fallen müssen, an das wir glaubten und glauben gemacht
wurden.

Ein neues Gut und Böse. Neue Gewissenskämpfe.
Göttlich und Teuflisch nicht mehr klerikales Symbol, doch
deshalb beileibe nicht Hohn und Verachtung. Die Aufgabe
aber dieser Hierarchie aller gutgesinnten Geister und Werke
soll sein: eine Syntax der neuen Gottes- und Menschen-

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[18/0026] das Werk kann nicht nachdrücklich genug empfohlen werden ⁴⁾ . 1517 wurden durch die Tat eines politisch und geistig gleich unvollendeten Mönchs Europa und die christliche Kultureinheit zerrissen, und dieser Luther gilt heute der grossdeutschen Feudalpolitik als erster europä- ischer Exponent ihres ‚divide et impera‘ ⁵⁾ . Heute, vier Jahr- hunderte später, hiesse es Europa nur dürftig zusammen- flicken, wollte man den Glauben an die offiziellen Heroen und Propheten bestehen lassen. Der Ideenstreit um eine neue Menschheit ist entbrannt, und in der Lösung der Menschheitsfrage wird auch die politische beschlossen liegen. Die mittelalterlichen Probleme sind noch heute nicht ausgetragen. Noch fehlt Europa eine neue Hierarchie, eine Hierarchie von Geistern, fähig und stark genug, jene mittel- alterliche geistliche Hierarchie zu ersetzen; eine Rangleiter der Leistungen und Vermögen, sowohl zwischen den Völkern wie zwischen den Individuen; eine unsichtbar abgestufte geistige und moralische Gesellschaft, fähig, wieder die Oberhand zu erlangen über den Satanismus der in rudimentären Einrichtungen und Formeln vereinigten Pro- fanität, die heute ihre entsetzliche Todesorgie feiert. Dann erst wird das Mittelalter überwunden sein. Uns Deutsche führt die Beteiligung an dieser Aufgabe, der eine Elite hervorragender Männer des letzten Jahr- hunderts gedient hat, tief bis ins Mittelalter und in die Zeit Luthers zurück. Die Revision unserer intellektuellen Ge- schichte soll uns neue Impulse geben, und manches wird fallen müssen, an das wir glaubten und glauben gemacht wurden. Ein neues Gut und Böse. Neue Gewissenskämpfe. Göttlich und Teuflisch nicht mehr klerikales Symbol, doch deshalb beileibe nicht Hohn und Verachtung. Die Aufgabe aber dieser Hierarchie aller gutgesinnten Geister und Werke soll sein: eine Syntax der neuen Gottes- und Menschen-

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/26>, abgerufen am 24.11.2024.