Realitäten" datieren von da und wirken noch heute. Der Kompromiss der Kirche mit dem Staat liess das Evangelium der Armen in Vergessenheit fallen und rückte die Opfer- tragödie in den Vordergrund der Betrachtung. Der Kom- promiss der Theologie mit dem irdischen Reich abstrahierte vom "Opfertod" Christi blutsaugerische Ausbeutungsmethoden den gekreuzigten Völkern gegenüber, schmorte die Ketzer und Rebellen und verwies etwaige Glücksansprüche der Herde auf ein besseres Jenseits. Die Theokratie wurde Züch- tungssystem aller erdenklichen Servilität.
Nicht auf das Glück, auf das Leiden war sie gegründet. Das Leiden war Dogma. Von göttlicher Sendung bezog sie die Ehrfurcht, vom Glauben der Untertanen die Autorität. Die Liebeslehre ward mit Gewalt verbreitet, das Leiden gewaltsam aufrechterhalten oder erzwungen. Gehorsam war höchste Tugend. Die Welt ist ein trügerischer, zu über- windender Schein. Die allgemeine Verworfenheit bedarf eines konzentrierenden Fürsten. Treue, Schlichtheit, Pflicht- erfüllung finden "Gnade". Auf dem Stellvertreter Gottes ruht die Gnade des Himmels, auf dem weltlichen Fürsten die Gnade des Papstes. Es ist das Christo-Chinesentum eines Totenreiches. Die Welt ist erlöst. Gott hat gelebt. Alles ist geschehen.
Dass die Ideologie dieses auf götzenhaften Voraus- setzungen beruhenden Systems (die ganze Inkarnationslehre ist Götzendienst) heute noch in Kraft und keineswegs zu leerem Zauber und zur Zeremonie herabgesunken ist, ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, dass noch vor kurzem die hierarchischen Titel des österreichischen Kaisers eine Welt von Jesuiten und Lakaien in Bewegung hielten oder der deutsche Kaiser als Summepiskopus der protestantischen Kirche Pastoralreichskanzler bevorzugt hat. Nein, auch die Servilität blieb bestehen. Noch immer finden sich freige- borene Intelligenzen, die der katholischen oder der pro- testantischen Staatskirche ihre Gedankensysteme anbieten.
Realitäten“ datieren von da und wirken noch heute. Der Kompromiss der Kirche mit dem Staat liess das Evangelium der Armen in Vergessenheit fallen und rückte die Opfer- tragödie in den Vordergrund der Betrachtung. Der Kom- promiss der Theologie mit dem irdischen Reich abstrahierte vom „Opfertod“ Christi blutsaugerische Ausbeutungsmethoden den gekreuzigten Völkern gegenüber, schmorte die Ketzer und Rebellen und verwies etwaige Glücksansprüche der Herde auf ein besseres Jenseits. Die Theokratie wurde Züch- tungssystem aller erdenklichen Servilität.
Nicht auf das Glück, auf das Leiden war sie gegründet. Das Leiden war Dogma. Von göttlicher Sendung bezog sie die Ehrfurcht, vom Glauben der Untertanen die Autorität. Die Liebeslehre ward mit Gewalt verbreitet, das Leiden gewaltsam aufrechterhalten oder erzwungen. Gehorsam war höchste Tugend. Die Welt ist ein trügerischer, zu über- windender Schein. Die allgemeine Verworfenheit bedarf eines konzentrierenden Fürsten. Treue, Schlichtheit, Pflicht- erfüllung finden „Gnade“. Auf dem Stellvertreter Gottes ruht die Gnade des Himmels, auf dem weltlichen Fürsten die Gnade des Papstes. Es ist das Christo-Chinesentum eines Totenreiches. Die Welt ist erlöst. Gott hat gelebt. Alles ist geschehen.
Dass die Ideologie dieses auf götzenhaften Voraus- setzungen beruhenden Systems (die ganze Inkarnationslehre ist Götzendienst) heute noch in Kraft und keineswegs zu leerem Zauber und zur Zeremonie herabgesunken ist, ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, dass noch vor kurzem die hierarchischen Titel des österreichischen Kaisers eine Welt von Jesuiten und Lakaien in Bewegung hielten oder der deutsche Kaiser als Summepiskopus der protestantischen Kirche Pastoralreichskanzler bevorzugt hat. Nein, auch die Servilität blieb bestehen. Noch immer finden sich freige- borene Intelligenzen, die der katholischen oder der pro- testantischen Staatskirche ihre Gedankensysteme anbieten.
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Realitäten“ datieren von da und wirken noch heute. Der
Kompromiss der Kirche mit dem Staat liess das Evangelium
der Armen in Vergessenheit fallen und rückte die Opfer-
tragödie in den Vordergrund der Betrachtung. Der Kom-
promiss der Theologie mit dem irdischen Reich abstrahierte
vom „Opfertod“ Christi blutsaugerische Ausbeutungsmethoden
den gekreuzigten Völkern gegenüber, schmorte die Ketzer
und Rebellen und verwies etwaige Glücksansprüche der
Herde auf ein besseres Jenseits. Die Theokratie wurde Züch-
tungssystem aller erdenklichen Servilität.
Nicht auf das Glück, auf das Leiden war sie gegründet.
Das Leiden war Dogma. Von göttlicher Sendung bezog
sie die Ehrfurcht, vom Glauben der Untertanen die Autorität.
Die Liebeslehre ward mit Gewalt verbreitet, das Leiden
gewaltsam aufrechterhalten oder erzwungen. Gehorsam war
höchste Tugend. Die Welt ist ein trügerischer, zu über-
windender Schein. Die allgemeine Verworfenheit bedarf
eines konzentrierenden Fürsten. Treue, Schlichtheit, Pflicht-
erfüllung finden „Gnade“. Auf dem Stellvertreter Gottes
ruht die Gnade des Himmels, auf dem weltlichen Fürsten
die Gnade des Papstes. Es ist das Christo-Chinesentum
eines Totenreiches. Die Welt ist erlöst. Gott hat gelebt.
Alles ist geschehen.
Dass die Ideologie dieses auf götzenhaften Voraus-
setzungen beruhenden Systems (die ganze Inkarnationslehre
ist Götzendienst) heute noch in Kraft und keineswegs zu
leerem Zauber und zur Zeremonie herabgesunken ist, ergibt
sich nicht nur aus der Tatsache, dass noch vor kurzem die
hierarchischen Titel des österreichischen Kaisers eine Welt
von Jesuiten und Lakaien in Bewegung hielten oder der
deutsche Kaiser als Summepiskopus der protestantischen
Kirche Pastoralreichskanzler bevorzugt hat. Nein, auch die
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/239>, abgerufen am 25.11.2024.
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