sich alle. Fichte kam dem Problem am nächsten. Deutsch sein, heisst originell sein, fand er. Und da er Lutheraner war, bedeutete das, die Originalität bestehe im Bruch mit der Tradition, in jenem stets neu und von vorne Beginnen, das die Ideen verneint, statt sie auszubauen, das den Ge- danken bekämpft, kaum dass er gefunden ist. Deutsch sein, heisst quer zu der Menschheit stehen; deutsch sein, heisst alle Begriffe verwirren, umwerfen, beugen, um sich die "Freiheit" zu wahren. Deutsch sein, heisst babylonische Türme errichten, auf denen in zehntausend Zungen der Unsinn Anspruch auf Neuheit macht; Deutsch sein, heisst renitente Systeme voller Sophistik ersinnen aus einfacher Furcht vor Wahrheit und Güte.
Mit solcher Philosophie ist man Widersacher und Sonder- ling. Mit solcher Philosophie ist man Nörgler und Volks- feind, flieht man die Realität und das Elend und Opfer, bleibt man in Konstruktionen, Verschrobenheiten; stammelt, verneint man und schwebt in der Luft. Das erklärt zur Genüge den Beifall, den Bismarck fand, als er bestimmte: deutsch sein, heisst Erfolg haben, gleichviel mit welchen Mitteln. Es war überraschend, dass einer es wagte, sozial zu sprechen, gleichviel mit welcher Gesinnung. Es war eine plausible und handliche Formel, die viel Spintisieren und fruchtloses Grübeln beendete; auf die sich heisshungrig alle die torturierten Gemütsmenschen stürzten, die gerne Geschäfte machten, dieweil es verboten war. Das Leben bekam einen Sinn, die Nation einen Sinn, Verschlagenheit wurde jetzt Recht, Gerissenheit wurde Moral. Keine Faxen mehr, seien wir praktisch! 93)
Und Bismarck hatte Erfolg, eminenten Erfolg, wenigstens für den Augenblick von einigen Jahrzehnten. Mit den ver- wegensten Mitteln "öffnete er Deutschland die Bahn"; war er der deutscheste Mann; glückte es ihm, Alldeutschland berauscht und gefesselt der Junkerschaft auszuliefern, wie ein geschickter Detektiv sein Opfer erst ködert und dann
sich alle. Fichte kam dem Problem am nächsten. Deutsch sein, heisst originell sein, fand er. Und da er Lutheraner war, bedeutete das, die Originalität bestehe im Bruch mit der Tradition, in jenem stets neu und von vorne Beginnen, das die Ideen verneint, statt sie auszubauen, das den Ge- danken bekämpft, kaum dass er gefunden ist. Deutsch sein, heisst quer zu der Menschheit stehen; deutsch sein, heisst alle Begriffe verwirren, umwerfen, beugen, um sich die „Freiheit“ zu wahren. Deutsch sein, heisst babylonische Türme errichten, auf denen in zehntausend Zungen der Unsinn Anspruch auf Neuheit macht; Deutsch sein, heisst renitente Systeme voller Sophistik ersinnen aus einfacher Furcht vor Wahrheit und Güte.
Mit solcher Philosophie ist man Widersacher und Sonder- ling. Mit solcher Philosophie ist man Nörgler und Volks- feind, flieht man die Realität und das Elend und Opfer, bleibt man in Konstruktionen, Verschrobenheiten; stammelt, verneint man und schwebt in der Luft. Das erklärt zur Genüge den Beifall, den Bismarck fand, als er bestimmte: deutsch sein, heisst Erfolg haben, gleichviel mit welchen Mitteln. Es war überraschend, dass einer es wagte, sozial zu sprechen, gleichviel mit welcher Gesinnung. Es war eine plausible und handliche Formel, die viel Spintisieren und fruchtloses Grübeln beendete; auf die sich heisshungrig alle die torturierten Gemütsmenschen stürzten, die gerne Geschäfte machten, dieweil es verboten war. Das Leben bekam einen Sinn, die Nation einen Sinn, Verschlagenheit wurde jetzt Recht, Gerissenheit wurde Moral. Keine Faxen mehr, seien wir praktisch! 93)
Und Bismarck hatte Erfolg, eminenten Erfolg, wenigstens für den Augenblick von einigen Jahrzehnten. Mit den ver- wegensten Mitteln „öffnete er Deutschland die Bahn“; war er der deutscheste Mann; glückte es ihm, Alldeutschland berauscht und gefesselt der Junkerschaft auszuliefern, wie ein geschickter Detektiv sein Opfer erst ködert und dann
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sich alle. Fichte kam dem Problem am nächsten. Deutsch
sein, heisst originell sein, fand er. Und da er Lutheraner
war, bedeutete das, die Originalität bestehe im Bruch mit
der Tradition, in jenem stets neu und von vorne Beginnen,
das die Ideen verneint, statt sie auszubauen, das den Ge-
danken bekämpft, kaum dass er gefunden ist. Deutsch sein,
heisst quer zu der Menschheit stehen; deutsch sein, heisst
alle Begriffe verwirren, umwerfen, beugen, um sich die
„Freiheit“ zu wahren. Deutsch sein, heisst babylonische
Türme errichten, auf denen in zehntausend Zungen der
Unsinn Anspruch auf Neuheit macht; Deutsch sein, heisst
renitente Systeme voller Sophistik ersinnen aus einfacher
Furcht vor Wahrheit und Güte.
Mit solcher Philosophie ist man Widersacher und Sonder-
ling. Mit solcher Philosophie ist man Nörgler und Volks-
feind, flieht man die Realität und das Elend und Opfer,
bleibt man in Konstruktionen, Verschrobenheiten; stammelt,
verneint man und schwebt in der Luft. Das erklärt zur
Genüge den Beifall, den Bismarck fand, als er bestimmte:
deutsch sein, heisst Erfolg haben, gleichviel mit welchen
Mitteln. Es war überraschend, dass einer es wagte, sozial
zu sprechen, gleichviel mit welcher Gesinnung. Es war
eine plausible und handliche Formel, die viel Spintisieren
und fruchtloses Grübeln beendete; auf die sich heisshungrig
alle die torturierten Gemütsmenschen stürzten, die gerne
Geschäfte machten, dieweil es verboten war. Das Leben
bekam einen Sinn, die Nation einen Sinn, Verschlagenheit
wurde jetzt Recht, Gerissenheit wurde Moral. Keine Faxen
mehr, seien wir praktisch!
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Und Bismarck hatte Erfolg, eminenten Erfolg, wenigstens
für den Augenblick von einigen Jahrzehnten. Mit den ver-
wegensten Mitteln „öffnete er Deutschland die Bahn“; war
er der deutscheste Mann; glückte es ihm, Alldeutschland
berauscht und gefesselt der Junkerschaft auszuliefern, wie
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/220>, abgerufen am 24.11.2024.
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