Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

lichkeit einer nahen Revolution glaubte" 68). Um so mehr
musste es darauf ankommen, die Freiheitsprinzipien sorg-
fältig zu prüfen und sie vor allen ihnen im Wege stehenden
oder sie gefährdenden Elementen zu hüten. Je stärker der
preussische Staat wurde, desto reinlicher und energischer
galt es, von ihm abzurücken; galt es, nicht nur seine ökono-
mischen, sondern auch seine politisch-moralischen Grundlagen
zur Diskussion zu stellen, das heisst: die seit 1848 deutlich
zutage tretende Einheits- und Zentralisationsbewegung auf
ihre Gefahren hin zu analysieren.

Marx hat diese Aufgabe nicht anerkannt. Er verfolgte
erbittert alle in dieser Hinsicht innerhalb der Internationale
seit 1868 vorgebrachten Ideen. Mit allen ihm zu Gebote
stehenden erlaubten und unerlaubten Mitteln wandte er sich
gegen die föderalistisch-anarchische Richtung, wie gegen
das christliche Hilfsideal. "Wie von den Demokraten das
Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so
von uns das Wort Proletariat!" Marx wollte sich damit
gegen die "Phrase der Revolution" gewandt haben, gegen
die bürgerlichen Begriffe von Freiheit, Gleichheit und Brü-
derlichkeit, in die das Proletariat nach dem Willen der
"Bourgeoissozialisten" ,gehoben' werden sollte. Er war
also wohl mit den Anarchisten der Meinung, dass das Pro-
letariat aus sich selbst heraus neue, vereinfachte, menschlichere
Formen der Gesellschaft zu produzieren habe, und einen
andern Sinn durfte die Konservierung des Proletariates auch
nicht haben, wenn klassenbewusstes Proletariat nicht gleich-
bedeutend mit klassenbewusster Unfreiheit, klassenbewusstem
Bildungsmangel und klassenbewusstem Elend sein sollte.
Man kann zwar philosophisch den Primitivismus einer
unausgeprägten, entrechteten Menschenschicht gegen eine
entartete, entwurzelte, unterdrückende und ausbeutende
Gesellschaft ausspielen -- ist das aber nicht schon eine
Frivolität? Ist nicht die grosse Aufgabe des Sozialismus
Vertiefung der Menschlichkeit? Die Diktatur des Proletariats

lichkeit einer nahen Revolution glaubte“ 68). Um so mehr
musste es darauf ankommen, die Freiheitsprinzipien sorg-
fältig zu prüfen und sie vor allen ihnen im Wege stehenden
oder sie gefährdenden Elementen zu hüten. Je stärker der
preussische Staat wurde, desto reinlicher und energischer
galt es, von ihm abzurücken; galt es, nicht nur seine ökono-
mischen, sondern auch seine politisch-moralischen Grundlagen
zur Diskussion zu stellen, das heisst: die seit 1848 deutlich
zutage tretende Einheits- und Zentralisationsbewegung auf
ihre Gefahren hin zu analysieren.

Marx hat diese Aufgabe nicht anerkannt. Er verfolgte
erbittert alle in dieser Hinsicht innerhalb der Internationale
seit 1868 vorgebrachten Ideen. Mit allen ihm zu Gebote
stehenden erlaubten und unerlaubten Mitteln wandte er sich
gegen die föderalistisch-anarchische Richtung, wie gegen
das christliche Hilfsideal. „Wie von den Demokraten das
Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so
von uns das Wort Proletariat!“ Marx wollte sich damit
gegen die „Phrase der Revolution“ gewandt haben, gegen
die bürgerlichen Begriffe von Freiheit, Gleichheit und Brü-
derlichkeit, in die das Proletariat nach dem Willen der
„Bourgeoissozialisten“ ‚gehoben‘ werden sollte. Er war
also wohl mit den Anarchisten der Meinung, dass das Pro-
letariat aus sich selbst heraus neue, vereinfachte, menschlichere
Formen der Gesellschaft zu produzieren habe, und einen
andern Sinn durfte die Konservierung des Proletariates auch
nicht haben, wenn klassenbewusstes Proletariat nicht gleich-
bedeutend mit klassenbewusster Unfreiheit, klassenbewusstem
Bildungsmangel und klassenbewusstem Elend sein sollte.
Man kann zwar philosophisch den Primitivismus einer
unausgeprägten, entrechteten Menschenschicht gegen eine
entartete, entwurzelte, unterdrückende und ausbeutende
Gesellschaft ausspielen — ist das aber nicht schon eine
Frivolität? Ist nicht die grosse Aufgabe des Sozialismus
Vertiefung der Menschlichkeit? Die Diktatur des Proletariats

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0206" n="198"/>
lichkeit einer nahen Revolution glaubte&#x201C; <note xml:id="id68d" next="id68d68d" place="end" n="68)"/>. Um so mehr<lb/>
musste es darauf ankommen, die Freiheitsprinzipien sorg-<lb/>
fältig zu prüfen und sie vor allen ihnen im Wege stehenden<lb/>
oder sie gefährdenden Elementen zu hüten. Je stärker der<lb/>
preussische Staat wurde, desto reinlicher und energischer<lb/>
galt es, von ihm abzurücken; galt es, nicht nur seine ökono-<lb/>
mischen, sondern auch seine politisch-moralischen Grundlagen<lb/>
zur Diskussion zu stellen, das heisst: die seit 1848 deutlich<lb/>
zutage tretende Einheits- und Zentralisationsbewegung auf<lb/>
ihre <hi rendition="#i">Gefahren</hi> hin zu analysieren.</p><lb/>
          <p>Marx hat diese Aufgabe nicht anerkannt. Er verfolgte<lb/>
erbittert alle in dieser Hinsicht innerhalb der Internationale<lb/>
seit 1868 vorgebrachten Ideen. Mit allen ihm zu Gebote<lb/>
stehenden erlaubten und unerlaubten Mitteln wandte er sich<lb/>
gegen die föderalistisch-anarchische Richtung, wie gegen<lb/>
das christliche Hilfsideal. &#x201E;Wie von den Demokraten das<lb/>
Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so<lb/>
von uns das Wort Proletariat!&#x201C; Marx wollte sich damit<lb/>
gegen die &#x201E;Phrase der Revolution&#x201C; gewandt haben, gegen<lb/>
die bürgerlichen Begriffe von Freiheit, Gleichheit und Brü-<lb/>
derlichkeit, in die das Proletariat nach dem Willen der<lb/>
&#x201E;Bourgeoissozialisten&#x201C; &#x201A;gehoben&#x2018; werden sollte. Er war<lb/>
also wohl mit den Anarchisten der Meinung, dass das Pro-<lb/>
letariat aus sich selbst heraus neue, vereinfachte, menschlichere<lb/>
Formen der Gesellschaft zu produzieren habe, und einen<lb/>
andern Sinn durfte die Konservierung des Proletariates auch<lb/>
nicht haben, wenn klassenbewusstes Proletariat nicht gleich-<lb/>
bedeutend mit klassenbewusster Unfreiheit, klassenbewusstem<lb/>
Bildungsmangel und klassenbewusstem Elend sein sollte.<lb/>
Man kann zwar philosophisch den Primitivismus einer<lb/>
unausgeprägten, entrechteten Menschenschicht gegen eine<lb/>
entartete, entwurzelte, unterdrückende und ausbeutende<lb/>
Gesellschaft ausspielen &#x2014; ist das aber nicht schon eine<lb/>
Frivolität? Ist nicht die grosse Aufgabe des Sozialismus<lb/>
Vertiefung der Menschlichkeit? Die <hi rendition="#i">Diktatur</hi> des Proletariats<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[198/0206] lichkeit einer nahen Revolution glaubte“ ⁶⁸⁾ . Um so mehr musste es darauf ankommen, die Freiheitsprinzipien sorg- fältig zu prüfen und sie vor allen ihnen im Wege stehenden oder sie gefährdenden Elementen zu hüten. Je stärker der preussische Staat wurde, desto reinlicher und energischer galt es, von ihm abzurücken; galt es, nicht nur seine ökono- mischen, sondern auch seine politisch-moralischen Grundlagen zur Diskussion zu stellen, das heisst: die seit 1848 deutlich zutage tretende Einheits- und Zentralisationsbewegung auf ihre Gefahren hin zu analysieren. Marx hat diese Aufgabe nicht anerkannt. Er verfolgte erbittert alle in dieser Hinsicht innerhalb der Internationale seit 1868 vorgebrachten Ideen. Mit allen ihm zu Gebote stehenden erlaubten und unerlaubten Mitteln wandte er sich gegen die föderalistisch-anarchische Richtung, wie gegen das christliche Hilfsideal. „Wie von den Demokraten das Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so von uns das Wort Proletariat!“ Marx wollte sich damit gegen die „Phrase der Revolution“ gewandt haben, gegen die bürgerlichen Begriffe von Freiheit, Gleichheit und Brü- derlichkeit, in die das Proletariat nach dem Willen der „Bourgeoissozialisten“ ‚gehoben‘ werden sollte. Er war also wohl mit den Anarchisten der Meinung, dass das Pro- letariat aus sich selbst heraus neue, vereinfachte, menschlichere Formen der Gesellschaft zu produzieren habe, und einen andern Sinn durfte die Konservierung des Proletariates auch nicht haben, wenn klassenbewusstes Proletariat nicht gleich- bedeutend mit klassenbewusster Unfreiheit, klassenbewusstem Bildungsmangel und klassenbewusstem Elend sein sollte. Man kann zwar philosophisch den Primitivismus einer unausgeprägten, entrechteten Menschenschicht gegen eine entartete, entwurzelte, unterdrückende und ausbeutende Gesellschaft ausspielen — ist das aber nicht schon eine Frivolität? Ist nicht die grosse Aufgabe des Sozialismus Vertiefung der Menschlichkeit? Die Diktatur des Proletariats

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/206
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/206>, abgerufen am 25.11.2024.