Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

auf die zweideutigste Weise versuchte, die Partei der Regierung
in die Hände zu spielen 14).

Man darf sich heute nicht über Scheidemann und den
Parteivorstand wundern, wenn Heroen des deutschen Sozia-
lismus die Korruption selbst züchteten. Heines Wort, dass
die preussische Regierung sogar von ihren Revolutionären
Vorteil zu ziehen weiss, auf Lassalle traf es zu. Lassalle
wusste und schrieb an Marx: "Die preussische Justiz scheinst
du in einem noch viel zu rosigen Lichte betrachtet zu
haben. Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an
diesen Burschen gemacht. Wenn ich an diesen zehnjährigen
täglichen Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert
es mir wie Blutwellen vor den Augen, und es ist mir, als
ob mich ein Wutstrom ersticken wollte!" 15) Gleichwohl
konnte er sich nicht entschliessen, resolut mit diesem
System zu brechen und sich ins Volk zu werfen, sondern
verlangte 1863, als die Annexion Schleswig-Holsteins in
Frage stand, Preussen solle mit einem "revolutionären"
Entschlusse das Londoner Protokoll zerreissen und die
Fetzen den europäischen Grossmächten ins Gesicht werfen 16).
Und vor denselben Richtern, die den "täglichen Justizmord"
doch praktizierten, sagte er gelegentlich: "Wie breite Unter-
schiede Sie und mich auch trennen, das uralte Vestafeuer
der Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen
jene modernen Barbaren" 17).

Als 1866 dann der Krieg mit Oesterreich bevor-
stand, erklärte Bebel als Opponent in einer Versammlung
von Fortschrittlern und Nationalvereinlern, die ihre
Bedenken vorbrachten: man solle doch nicht so furcht-
sam sein; aus dem Krieg könne etwas ganz anderes
hervorgehen, als die Kriegführenden dächten. Was
sollte wohl daraus hervorgehen? Die Revolution oder ein
kaiserliches Grossdeutschland? Der "Sozialdemokrat", das
Organ des "Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" bot
Preussen ein Bündnis an zur Herstellung eines "freien und

auf die zweideutigste Weise versuchte, die Partei der Regierung
in die Hände zu spielen 14).

Man darf sich heute nicht über Scheidemann und den
Parteivorstand wundern, wenn Heroen des deutschen Sozia-
lismus die Korruption selbst züchteten. Heines Wort, dass
die preussische Regierung sogar von ihren Revolutionären
Vorteil zu ziehen weiss, auf Lassalle traf es zu. Lassalle
wusste und schrieb an Marx: „Die preussische Justiz scheinst
du in einem noch viel zu rosigen Lichte betrachtet zu
haben. Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an
diesen Burschen gemacht. Wenn ich an diesen zehnjährigen
täglichen Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert
es mir wie Blutwellen vor den Augen, und es ist mir, als
ob mich ein Wutstrom ersticken wollte!“ 15) Gleichwohl
konnte er sich nicht entschliessen, resolut mit diesem
System zu brechen und sich ins Volk zu werfen, sondern
verlangte 1863, als die Annexion Schleswig-Holsteins in
Frage stand, Preussen solle mit einem „revolutionären“
Entschlusse das Londoner Protokoll zerreissen und die
Fetzen den europäischen Grossmächten ins Gesicht werfen 16).
Und vor denselben Richtern, die den „täglichen Justizmord“
doch praktizierten, sagte er gelegentlich: „Wie breite Unter-
schiede Sie und mich auch trennen, das uralte Vestafeuer
der Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen
jene modernen Barbaren“ 17).

Als 1866 dann der Krieg mit Oesterreich bevor-
stand, erklärte Bebel als Opponent in einer Versammlung
von Fortschrittlern und Nationalvereinlern, die ihre
Bedenken vorbrachten: man solle doch nicht so furcht-
sam sein; aus dem Krieg könne etwas ganz anderes
hervorgehen, als die Kriegführenden dächten. Was
sollte wohl daraus hervorgehen? Die Revolution oder ein
kaiserliches Grossdeutschland? Der „Sozialdemokrat“, das
Organ des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ bot
Preussen ein Bündnis an zur Herstellung eines „freien und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0184" n="176"/>
auf die zweideutigste Weise versuchte, die Partei der Regierung<lb/>
in die Hände zu spielen <note xml:id="id14d" next="id14d14d" place="end" n="14)"/>.</p><lb/>
          <p>Man darf sich heute nicht über Scheidemann und den<lb/>
Parteivorstand wundern, wenn Heroen des deutschen Sozia-<lb/>
lismus die Korruption selbst züchteten. Heines Wort, dass<lb/>
die preussische Regierung sogar von ihren Revolutionären<lb/>
Vorteil zu ziehen weiss, auf Lassalle traf es zu. Lassalle<lb/>
wusste und schrieb an Marx: &#x201E;Die preussische Justiz scheinst<lb/>
du in einem noch viel zu rosigen Lichte betrachtet zu<lb/>
haben. Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an<lb/>
diesen Burschen gemacht. Wenn ich an diesen zehnjährigen<lb/>
täglichen Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert<lb/>
es mir wie Blutwellen vor den Augen, und es ist mir, als<lb/>
ob mich ein Wutstrom ersticken wollte!&#x201C; <note xml:id="id15d" next="id15d15d" place="end" n="15)"/> Gleichwohl<lb/>
konnte er sich nicht entschliessen, resolut mit diesem<lb/>
System zu brechen und sich ins Volk zu werfen, sondern<lb/>
verlangte 1863, als die Annexion Schleswig-Holsteins in<lb/>
Frage stand, Preussen solle mit einem &#x201E;revolutionären&#x201C;<lb/>
Entschlusse das Londoner Protokoll zerreissen und die<lb/>
Fetzen den europäischen Grossmächten ins Gesicht werfen <note xml:id="id16d" next="id16d16d" place="end" n="16)"/>.<lb/>
Und vor denselben Richtern, die den &#x201E;täglichen Justizmord&#x201C;<lb/>
doch praktizierten, sagte er gelegentlich: &#x201E;Wie breite Unter-<lb/>
schiede Sie und mich auch trennen, das uralte Vestafeuer<lb/>
der Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen<lb/>
jene modernen Barbaren&#x201C; <note xml:id="id17d" next="id17d17d" place="end" n="17)"/>.</p><lb/>
          <p>Als 1866 dann der Krieg mit Oesterreich bevor-<lb/>
stand, erklärte Bebel als Opponent in einer Versammlung<lb/>
von Fortschrittlern und Nationalvereinlern, die ihre<lb/>
Bedenken vorbrachten: man solle doch nicht so furcht-<lb/>
sam sein; aus dem Krieg könne etwas ganz anderes<lb/>
hervorgehen, als die Kriegführenden dächten. Was<lb/>
sollte wohl daraus hervorgehen? Die Revolution oder ein<lb/>
kaiserliches Grossdeutschland? Der &#x201E;Sozialdemokrat&#x201C;, das<lb/>
Organ des &#x201E;Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins&#x201C; bot<lb/>
Preussen ein Bündnis an zur Herstellung eines &#x201E;freien und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[176/0184] auf die zweideutigste Weise versuchte, die Partei der Regierung in die Hände zu spielen ¹⁴⁾ . Man darf sich heute nicht über Scheidemann und den Parteivorstand wundern, wenn Heroen des deutschen Sozia- lismus die Korruption selbst züchteten. Heines Wort, dass die preussische Regierung sogar von ihren Revolutionären Vorteil zu ziehen weiss, auf Lassalle traf es zu. Lassalle wusste und schrieb an Marx: „Die preussische Justiz scheinst du in einem noch viel zu rosigen Lichte betrachtet zu haben. Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an diesen Burschen gemacht. Wenn ich an diesen zehnjährigen täglichen Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie Blutwellen vor den Augen, und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom ersticken wollte!“ ¹⁵⁾ Gleichwohl konnte er sich nicht entschliessen, resolut mit diesem System zu brechen und sich ins Volk zu werfen, sondern verlangte 1863, als die Annexion Schleswig-Holsteins in Frage stand, Preussen solle mit einem „revolutionären“ Entschlusse das Londoner Protokoll zerreissen und die Fetzen den europäischen Grossmächten ins Gesicht werfen ¹⁶⁾ . Und vor denselben Richtern, die den „täglichen Justizmord“ doch praktizierten, sagte er gelegentlich: „Wie breite Unter- schiede Sie und mich auch trennen, das uralte Vestafeuer der Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen jene modernen Barbaren“ ¹⁷⁾ . Als 1866 dann der Krieg mit Oesterreich bevor- stand, erklärte Bebel als Opponent in einer Versammlung von Fortschrittlern und Nationalvereinlern, die ihre Bedenken vorbrachten: man solle doch nicht so furcht- sam sein; aus dem Krieg könne etwas ganz anderes hervorgehen, als die Kriegführenden dächten. Was sollte wohl daraus hervorgehen? Die Revolution oder ein kaiserliches Grossdeutschland? Der „Sozialdemokrat“, das Organ des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ bot Preussen ein Bündnis an zur Herstellung eines „freien und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/184
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/184>, abgerufen am 21.11.2024.