dialektischen und autoritären Begabung. Aber die politische Entrechtung eines Breslauer Juden der 40er Jahre wie Lassalle, und die rechnerische, im Talmud geschärfte Intelligenz eines aus Rabbinergeschlecht stammenden Geistes wie Marx versprachen der proletarischen Bewe- gung grundsätzlich die grösste Förderung. Gerade jüdi- scher Revolutionäre bedurfte ein antisemitischer Staat wie das Preussen der Junker und eine wirtschaftliche Situation wie die Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn der Freiheitsidee neue Heroen erstehen sollten. Nie- mand fühlte sich je so entrechtet wie Lassalle, niemand sich für die Kritik des Kapitals so geschaffen wie Marx. Gerade dem jüdischen Rebellen war ein Aktionsfeld geboten, wenn er seine persönliche Emanzipation und die seiner Rasse identifizierte mit der entrechteten Schicht seiner Zeit, dem Proletariat. Der hart aufsässige Enthusiasmus Lassalles und das tief in die Wirtschaftsprobleme einschneidende Temperament Marxens schienen berufen, sich zu ergänzen, um als Ziel mit ebenso grossem politischem Wagemut wie ökonomischem Wissen die politische und soziale Emanzi- pation des Deutschtums sowohl wie des Judentums zu erwirken.
Wie kam es, dass die Emanzipation gleichwohl aus- blieb und an ihre Stelle eine Partei trat, die zwar die letzten und modernsten Prinzipien einer sozialen Revolution zu vertreten schien, aber verhältnismässig rasch in den Bürger-, Beamten- und Militärstaat einging? Marx sowohl wie Lassalle hüteten sich, den Staat anzugreifen; lehnten es ab, sich ausserhalb der offiziellen Machtaspirationen zu stellen; Marx insbesondere verfolgte, als er die Gefahren seines Systems durchschaut sah, erbittert alle in dieser Hinsicht vorgebrachten Bedenken 107). Die deutschen Rebellen waren sehr unduldsam gegen den Bonapartismus wie gegen den Zarismus, den Bismarckianismus aber förderten sie instinktiv. Theoretisch predigten sie die Revolution, praktisch aber
dialektischen und autoritären Begabung. Aber die politische Entrechtung eines Breslauer Juden der 40er Jahre wie Lassalle, und die rechnerische, im Talmud geschärfte Intelligenz eines aus Rabbinergeschlecht stammenden Geistes wie Marx versprachen der proletarischen Bewe- gung grundsätzlich die grösste Förderung. Gerade jüdi- scher Revolutionäre bedurfte ein antisemitischer Staat wie das Preussen der Junker und eine wirtschaftliche Situation wie die Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn der Freiheitsidee neue Heroen erstehen sollten. Nie- mand fühlte sich je so entrechtet wie Lassalle, niemand sich für die Kritik des Kapitals so geschaffen wie Marx. Gerade dem jüdischen Rebellen war ein Aktionsfeld geboten, wenn er seine persönliche Emanzipation und die seiner Rasse identifizierte mit der entrechteten Schicht seiner Zeit, dem Proletariat. Der hart aufsässige Enthusiasmus Lassalles und das tief in die Wirtschaftsprobleme einschneidende Temperament Marxens schienen berufen, sich zu ergänzen, um als Ziel mit ebenso grossem politischem Wagemut wie ökonomischem Wissen die politische und soziale Emanzi- pation des Deutschtums sowohl wie des Judentums zu erwirken.
Wie kam es, dass die Emanzipation gleichwohl aus- blieb und an ihre Stelle eine Partei trat, die zwar die letzten und modernsten Prinzipien einer sozialen Revolution zu vertreten schien, aber verhältnismässig rasch in den Bürger-, Beamten- und Militärstaat einging? Marx sowohl wie Lassalle hüteten sich, den Staat anzugreifen; lehnten es ab, sich ausserhalb der offiziellen Machtaspirationen zu stellen; Marx insbesondere verfolgte, als er die Gefahren seines Systems durchschaut sah, erbittert alle in dieser Hinsicht vorgebrachten Bedenken 107). Die deutschen Rebellen waren sehr unduldsam gegen den Bonapartismus wie gegen den Zarismus, den Bismarckianismus aber förderten sie instinktiv. Theoretisch predigten sie die Revolution, praktisch aber
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dialektischen und autoritären Begabung. Aber die politische
Entrechtung eines Breslauer Juden der 40er Jahre wie
Lassalle, und die rechnerische, im Talmud geschärfte
Intelligenz eines aus Rabbinergeschlecht stammenden
Geistes wie Marx versprachen der proletarischen Bewe-
gung grundsätzlich die grösste Förderung. Gerade jüdi-
scher Revolutionäre bedurfte ein antisemitischer Staat wie
das Preussen der Junker und eine wirtschaftliche Situation
wie die Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
wenn der Freiheitsidee neue Heroen erstehen sollten. Nie-
mand fühlte sich je so entrechtet wie Lassalle, niemand
sich für die Kritik des Kapitals so geschaffen wie Marx.
Gerade dem jüdischen Rebellen war ein Aktionsfeld geboten,
wenn er seine persönliche Emanzipation und die seiner
Rasse identifizierte mit der entrechteten Schicht seiner Zeit,
dem Proletariat. Der hart aufsässige Enthusiasmus Lassalles
und das tief in die Wirtschaftsprobleme einschneidende
Temperament Marxens schienen berufen, sich zu ergänzen,
um als Ziel mit ebenso grossem politischem Wagemut wie
ökonomischem Wissen die politische und soziale Emanzi-
pation des Deutschtums sowohl wie des Judentums zu
erwirken.
Wie kam es, dass die Emanzipation gleichwohl aus-
blieb und an ihre Stelle eine Partei trat, die zwar die letzten
und modernsten Prinzipien einer sozialen Revolution zu
vertreten schien, aber verhältnismässig rasch in den Bürger-,
Beamten- und Militärstaat einging? Marx sowohl wie
Lassalle hüteten sich, den Staat anzugreifen; lehnten es
ab, sich ausserhalb der offiziellen Machtaspirationen zu
stellen; Marx insbesondere verfolgte, als er die Gefahren
seines Systems durchschaut sah, erbittert alle in dieser Hinsicht
vorgebrachten Bedenken
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. Die deutschen Rebellen waren
sehr unduldsam gegen den Bonapartismus wie gegen den
Zarismus, den Bismarckianismus aber förderten sie instinktiv.
Theoretisch predigten sie die Revolution, praktisch aber
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/178>, abgerufen am 21.11.2024.
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