in der Verwirklichung begriffene Gedanke noch frei? Und muss nicht in wenigen Geistern der Menschheit ein Resi- duum reinen Gedankens bleiben, ein Reservat von Geist für etwaigen Bankerott der Verwirklicher? Muss es nicht immer Utopisten geben und sogar Skeptiker der Tat, wenn die Menschheit nicht verkümmern und versanden soll? Sind die Utopisten nicht gerade jene Geister, die dem Streben nach Freiheit stets wieder neue Waffen und Wege zeigen? Und sind die grossen Praktiker nicht ebenso unge- recht, hart, ja unmenschlich, wie die Träumer und Ver- sunkenen, die aussichtslosen Idealisten und Ideenkapaune weltflüchtig und gerade aus Reichtum irreal sind?
Vielleicht aber war Weitling gar kein Utopist? Seine Brüdergemeinden erstreckten sich über die wichtigsten Städte Europas. Nachgewiesen sind Frankfurt, Leipzig, Zürich, Paris, Brüssel, London, Genf und Berlin. Vielleicht waren alle jene französischen "Utopisten" und Jesusschwärmer gar keine Utopisten, sondern nur -- Franzosen? Und vielleicht waren die Jungdeutschen, die nach Paris kamen, gar nicht so sehr Verwirklicher grosser Ideen, als vielmehr -- Franzosenfresser? Das wäre doch seltsam!
6.
War Wilhelm Weitling der Begründer des deutschen Kommunismus, so wurden zwei jüdische Geister, Ferdinand Lassalle und Karl Marx, die Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Die Tatsache, dass Weitling heute nahezu vergessen ist, während von jüdischer Seite die Sozial- demokratie "nicht an letzter Stelle als eine Eigenart deut- schen Geistes" bezeichnet wird 99), ist ermunternd genug, einige zur Beurteilung der sozialistischen Anfänge in Deutsch- land unerlässliche Fakta in Erinnerung zu bringen. Voraus- schicken möchte ich, dass es mir durchaus fernliegt, dem Antisemitismus und der Sozialistenhetze im geringsten
in der Verwirklichung begriffene Gedanke noch frei? Und muss nicht in wenigen Geistern der Menschheit ein Resi- duum reinen Gedankens bleiben, ein Reservat von Geist für etwaigen Bankerott der Verwirklicher? Muss es nicht immer Utopisten geben und sogar Skeptiker der Tat, wenn die Menschheit nicht verkümmern und versanden soll? Sind die Utopisten nicht gerade jene Geister, die dem Streben nach Freiheit stets wieder neue Waffen und Wege zeigen? Und sind die grossen Praktiker nicht ebenso unge- recht, hart, ja unmenschlich, wie die Träumer und Ver- sunkenen, die aussichtslosen Idealisten und Ideenkapaune weltflüchtig und gerade aus Reichtum irreal sind?
Vielleicht aber war Weitling gar kein Utopist? Seine Brüdergemeinden erstreckten sich über die wichtigsten Städte Europas. Nachgewiesen sind Frankfurt, Leipzig, Zürich, Paris, Brüssel, London, Genf und Berlin. Vielleicht waren alle jene französischen „Utopisten“ und Jesusschwärmer gar keine Utopisten, sondern nur — Franzosen? Und vielleicht waren die Jungdeutschen, die nach Paris kamen, gar nicht so sehr Verwirklicher grosser Ideen, als vielmehr — Franzosenfresser? Das wäre doch seltsam!
6.
War Wilhelm Weitling der Begründer des deutschen Kommunismus, so wurden zwei jüdische Geister, Ferdinand Lassalle und Karl Marx, die Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Die Tatsache, dass Weitling heute nahezu vergessen ist, während von jüdischer Seite die Sozial- demokratie „nicht an letzter Stelle als eine Eigenart deut- schen Geistes“ bezeichnet wird 99), ist ermunternd genug, einige zur Beurteilung der sozialistischen Anfänge in Deutsch- land unerlässliche Fakta in Erinnerung zu bringen. Voraus- schicken möchte ich, dass es mir durchaus fernliegt, dem Antisemitismus und der Sozialistenhetze im geringsten
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0173"n="165"/>
in der Verwirklichung begriffene Gedanke noch frei? Und<lb/>
muss nicht in wenigen Geistern der Menschheit ein Resi-<lb/>
duum reinen Gedankens bleiben, ein Reservat von Geist<lb/>
für etwaigen Bankerott der Verwirklicher? Muss es nicht<lb/>
immer Utopisten geben und sogar Skeptiker der Tat, wenn<lb/>
die Menschheit nicht verkümmern und versanden soll?<lb/>
Sind die Utopisten nicht gerade jene Geister, die dem<lb/>
Streben nach Freiheit stets wieder neue Waffen und Wege<lb/>
zeigen? Und sind die grossen Praktiker nicht ebenso unge-<lb/>
recht, hart, ja unmenschlich, wie die Träumer und Ver-<lb/>
sunkenen, die aussichtslosen Idealisten und Ideenkapaune<lb/>
weltflüchtig und gerade aus Reichtum irreal sind?</p><lb/><p>Vielleicht aber war Weitling gar kein Utopist? Seine<lb/>
Brüdergemeinden erstreckten sich über die wichtigsten<lb/>
Städte Europas. Nachgewiesen sind Frankfurt, Leipzig,<lb/>
Zürich, Paris, Brüssel, London, Genf und Berlin. Vielleicht<lb/>
waren alle jene französischen „Utopisten“ und Jesusschwärmer<lb/>
gar keine Utopisten, sondern nur — Franzosen? Und<lb/>
vielleicht waren die Jungdeutschen, die nach Paris kamen,<lb/>
gar nicht so sehr Verwirklicher grosser Ideen, als vielmehr<lb/>— Franzosenfresser? Das wäre doch seltsam!</p><lb/></div><divn="2"><head>6.</head><lb/><p>War Wilhelm Weitling der Begründer des deutschen<lb/>
Kommunismus, so wurden zwei jüdische Geister, Ferdinand<lb/>
Lassalle und Karl Marx, die Begründer der deutschen<lb/>
Sozialdemokratie. Die Tatsache, dass Weitling heute nahezu<lb/>
vergessen ist, während von jüdischer Seite die Sozial-<lb/>
demokratie „nicht an letzter Stelle als eine Eigenart deut-<lb/>
schen Geistes“ bezeichnet wird <notexml:id="id99c"next="id99c99c"place="end"n="99)"/>, ist ermunternd genug,<lb/>
einige zur Beurteilung der sozialistischen Anfänge in Deutsch-<lb/>
land unerlässliche Fakta in Erinnerung zu bringen. Voraus-<lb/>
schicken möchte ich, dass es mir durchaus fernliegt, dem<lb/>
Antisemitismus und der Sozialistenhetze im geringsten<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[165/0173]
in der Verwirklichung begriffene Gedanke noch frei? Und
muss nicht in wenigen Geistern der Menschheit ein Resi-
duum reinen Gedankens bleiben, ein Reservat von Geist
für etwaigen Bankerott der Verwirklicher? Muss es nicht
immer Utopisten geben und sogar Skeptiker der Tat, wenn
die Menschheit nicht verkümmern und versanden soll?
Sind die Utopisten nicht gerade jene Geister, die dem
Streben nach Freiheit stets wieder neue Waffen und Wege
zeigen? Und sind die grossen Praktiker nicht ebenso unge-
recht, hart, ja unmenschlich, wie die Träumer und Ver-
sunkenen, die aussichtslosen Idealisten und Ideenkapaune
weltflüchtig und gerade aus Reichtum irreal sind?
Vielleicht aber war Weitling gar kein Utopist? Seine
Brüdergemeinden erstreckten sich über die wichtigsten
Städte Europas. Nachgewiesen sind Frankfurt, Leipzig,
Zürich, Paris, Brüssel, London, Genf und Berlin. Vielleicht
waren alle jene französischen „Utopisten“ und Jesusschwärmer
gar keine Utopisten, sondern nur — Franzosen? Und
vielleicht waren die Jungdeutschen, die nach Paris kamen,
gar nicht so sehr Verwirklicher grosser Ideen, als vielmehr
— Franzosenfresser? Das wäre doch seltsam!
6.
War Wilhelm Weitling der Begründer des deutschen
Kommunismus, so wurden zwei jüdische Geister, Ferdinand
Lassalle und Karl Marx, die Begründer der deutschen
Sozialdemokratie. Die Tatsache, dass Weitling heute nahezu
vergessen ist, während von jüdischer Seite die Sozial-
demokratie „nicht an letzter Stelle als eine Eigenart deut-
schen Geistes“ bezeichnet wird
⁹⁹⁾
, ist ermunternd genug,
einige zur Beurteilung der sozialistischen Anfänge in Deutsch-
land unerlässliche Fakta in Erinnerung zu bringen. Voraus-
schicken möchte ich, dass es mir durchaus fernliegt, dem
Antisemitismus und der Sozialistenhetze im geringsten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/173>, abgerufen am 25.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.