ist, der uns zu Verteidigern des Prinzips der Gleichheit macht" 95). Wem aber soll der "freie Rhein" gehören? "Das Volk, welches zuerst das reine Prinzip der Nächsten- liebe zu verwirklichen sucht, wird ohne Schwertstreich die Herzen aller Völker erobern. Darin liegt die Lösung der Rheinfrage, sonst gibt es keine".
Mehring findet, auch dieser sei ein Utopist gewesen, und er verbindet mit dem Wort, wie alle Marxisten, etwas absprechend Richtendes. Warum wohl? Was heisst denn das: ein Utopist sein? Utopist sein heisst in der Marx'schen Terminologie Ideen äussern, die nicht verwirklicht werden können oder richtiger, deren Wirklichkeit dem Marxismus widerspricht. "Die Freiheit kann verwirklicht werden", dieser Hegel'sche Satz terrorisiert auf dem Umweg über Marx noch heute die Geister. Aber ist er deshalb auch richtig? Der Kampf gegen die Utopie hat unermesslichen Schaden angerichtet, und die doktrinäre Allwissenheit, der er entsprang, trug nicht wenig zu jener "geistreichen" Im- potenz bei, deren Vertreter zu den Rezepten schworen, trotz- dem der Geschichtsverlauf hundertmal sie verwarf 96). Der Kanzleihegelianismus aber, der ja ebenfalls gegen die "Uto- pisten" wütete, ging nur noch einen Schritt weiter wie die Marxisten, wenn er behauptete: die Freiheit ist bereits ver- wirklicht, im Gesetz. Es ist eine wahre Erlösung, dass sich endlich gerade aus Sozialistenkreisen immer kühnere Stimmen erheben, die die verpönte "Utopie" in ihr Recht wieder einsetzen wollen. Nettlau und Guillaume zerstörten das Märchen von Bakunins "Utopie" 97); Brupbacher zerstörte die Marx-Legende 98); und es mag eine Philosophie eintreffen, die mit den Wirklichkeitsutopisten aufzuräumen gewillt ist.
Gewiss, die Utopie hat ihre Gefahren. In Zeiten revolutionärer Spannung und himmelschreiender Massen- vergewaltigung kann sie verächtlich sein; sie entzieht edle und wertvolle Kräfte, auf die die Gesellschaft Anspruch hat, der Aktion. Aber andererseits: ist der verwirklichte oder
ist, der uns zu Verteidigern des Prinzips der Gleichheit macht“ 95). Wem aber soll der „freie Rhein“ gehören? „Das Volk, welches zuerst das reine Prinzip der Nächsten- liebe zu verwirklichen sucht, wird ohne Schwertstreich die Herzen aller Völker erobern. Darin liegt die Lösung der Rheinfrage, sonst gibt es keine“.
Mehring findet, auch dieser sei ein Utopist gewesen, und er verbindet mit dem Wort, wie alle Marxisten, etwas absprechend Richtendes. Warum wohl? Was heisst denn das: ein Utopist sein? Utopist sein heisst in der Marx'schen Terminologie Ideen äussern, die nicht verwirklicht werden können oder richtiger, deren Wirklichkeit dem Marxismus widerspricht. „Die Freiheit kann verwirklicht werden“, dieser Hegel'sche Satz terrorisiert auf dem Umweg über Marx noch heute die Geister. Aber ist er deshalb auch richtig? Der Kampf gegen die Utopie hat unermesslichen Schaden angerichtet, und die doktrinäre Allwissenheit, der er entsprang, trug nicht wenig zu jener „geistreichen“ Im- potenz bei, deren Vertreter zu den Rezepten schworen, trotz- dem der Geschichtsverlauf hundertmal sie verwarf 96). Der Kanzleihegelianismus aber, der ja ebenfalls gegen die „Uto- pisten“ wütete, ging nur noch einen Schritt weiter wie die Marxisten, wenn er behauptete: die Freiheit ist bereits ver- wirklicht, im Gesetz. Es ist eine wahre Erlösung, dass sich endlich gerade aus Sozialistenkreisen immer kühnere Stimmen erheben, die die verpönte „Utopie“ in ihr Recht wieder einsetzen wollen. Nettlau und Guillaume zerstörten das Märchen von Bakunins „Utopie“ 97); Brupbacher zerstörte die Marx-Legende 98); und es mag eine Philosophie eintreffen, die mit den Wirklichkeitsutopisten aufzuräumen gewillt ist.
Gewiss, die Utopie hat ihre Gefahren. In Zeiten revolutionärer Spannung und himmelschreiender Massen- vergewaltigung kann sie verächtlich sein; sie entzieht edle und wertvolle Kräfte, auf die die Gesellschaft Anspruch hat, der Aktion. Aber andererseits: ist der verwirklichte oder
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liebe zu verwirklichen sucht, wird ohne Schwertstreich
die Herzen aller Völker erobern. Darin liegt die Lösung
der Rheinfrage, sonst gibt es keine“.
Mehring findet, auch dieser sei ein Utopist gewesen,
und er verbindet mit dem Wort, wie alle Marxisten, etwas
absprechend Richtendes. Warum wohl? Was heisst denn
das: ein Utopist sein? Utopist sein heisst in der Marx'schen
Terminologie Ideen äussern, die nicht verwirklicht werden
können oder richtiger, deren Wirklichkeit dem Marxismus
widerspricht. „Die Freiheit kann verwirklicht werden“,
dieser Hegel'sche Satz terrorisiert auf dem Umweg über
Marx noch heute die Geister. Aber ist er deshalb auch
richtig? Der Kampf gegen die Utopie hat unermesslichen
Schaden angerichtet, und die doktrinäre Allwissenheit, der
er entsprang, trug nicht wenig zu jener „geistreichen“ Im-
potenz bei, deren Vertreter zu den Rezepten schworen, trotz-
dem der Geschichtsverlauf hundertmal sie verwarf
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Kanzleihegelianismus aber, der ja ebenfalls gegen die „Uto-
pisten“ wütete, ging nur noch einen Schritt weiter wie die
Marxisten, wenn er behauptete: die Freiheit ist bereits ver-
wirklicht, im Gesetz. Es ist eine wahre Erlösung, dass sich
endlich gerade aus Sozialistenkreisen immer kühnere Stimmen
erheben, die die verpönte „Utopie“ in ihr Recht wieder
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Märchen von Bakunins „Utopie“
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; Brupbacher zerstörte
die Marx-Legende
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; und es mag eine Philosophie eintreffen,
die mit den Wirklichkeitsutopisten aufzuräumen gewillt ist.
Gewiss, die Utopie hat ihre Gefahren. In Zeiten
revolutionärer Spannung und himmelschreiender Massen-
vergewaltigung kann sie verächtlich sein; sie entzieht edle
und wertvolle Kräfte, auf die die Gesellschaft Anspruch
hat, der Aktion. Aber andererseits: ist der verwirklichte oder
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/172>, abgerufen am 24.11.2024.
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