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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Franz Mehring, der zwar ein grosser Marxist, aber auch
ein grosser Patriot ist, hat sich darüber bitter geäussert 52).
"Lammenais hielt den Herausgebern einen zweistündigen
Vortrag über seine religiösen Mucken und erklärte dann,
er werde ihre Taten abwarten, ehe er sich daran beteilige".
Louis Blanc, "dieser ängstliche Kleinbürger, konnte nicht
von der süssen Gewohnheit lassen, sich die Kämpfe des
praktischen Lebens in irgend einer Religion zu verhimmeln
und sich dadurch ihr erschöpfendes Verständnis zu ver-
rammeln" 53). "Einige hatten zugesagt (Lamartine z. B.), aber
nichts geliefert, andere sagten in manchmal nicht erfreulicher
Weise ab". Mehring verkennt aber in krasser Weise und
ungerecht wie alle Marxisten und gerade die Ueberzeugtesten
sind, die damalige intellektuelle Situation. Er spricht von
Lammenais' "religiösen Mucken". Sollte er den grossartigen
prinzipiellen Kampf nicht kennen, den Lammenais gerade
damals mit der Kirche ausfocht? Haben die Marxisten so
sehr die Wahrheit und die Methode gepachtet, dass sie
nur noch für Marx-Zitate empfänglich sind? "Wir hoffen",
schrieb Lammenais, "das Reich der Gewalt zu Boden zu
schmettern und an seine Stelle das Reich der Gerechtig-
keit und der Liebe zu setzen, welches zwischen den Gliedern
der grossen Menschenfamilie jene Einigkeit erzeugt, in der jedes
Individuum als Teil des Ganzen gilt und am allgemeinen Wohl
teil hat" 54). Sind das religiöse Mucken? Der Atheismus der
Enzyklopädisten hatte ihn abgestossen, wie ihn die Megalo-
manie und der Atheismus der Junghegelianer abstiess. Er
suchte die Emanzipation der Menschheit in der Macht
religiösen Brüderbewusstseins und er brach, als er die Frei-
heit nicht fand, kühn und konsequent mit der Kirche und
demselben Papst Gregor, der ihn einen neuen Bossuet und
den letzten der Kirchenväter hatte rühmen lassen. Sind die
Kapitel IV, XIII, XX, XXXV und XXXVI der "Paroles d'un
Croyant" religiöse Mucken oder aktuellste Prophetie, und
haben wir in unserer sozialistischen Literatur diesem grossen

Franz Mehring, der zwar ein grosser Marxist, aber auch
ein grosser Patriot ist, hat sich darüber bitter geäussert 52).
„Lammenais hielt den Herausgebern einen zweistündigen
Vortrag über seine religiösen Mucken und erklärte dann,
er werde ihre Taten abwarten, ehe er sich daran beteilige“.
Louis Blanc, „dieser ängstliche Kleinbürger, konnte nicht
von der süssen Gewohnheit lassen, sich die Kämpfe des
praktischen Lebens in irgend einer Religion zu verhimmeln
und sich dadurch ihr erschöpfendes Verständnis zu ver-
rammeln“ 53). „Einige hatten zugesagt (Lamartine z. B.), aber
nichts geliefert, andere sagten in manchmal nicht erfreulicher
Weise ab“. Mehring verkennt aber in krasser Weise und
ungerecht wie alle Marxisten und gerade die Ueberzeugtesten
sind, die damalige intellektuelle Situation. Er spricht von
Lammenais' „religiösen Mucken“. Sollte er den grossartigen
prinzipiellen Kampf nicht kennen, den Lammenais gerade
damals mit der Kirche ausfocht? Haben die Marxisten so
sehr die Wahrheit und die Methode gepachtet, dass sie
nur noch für Marx-Zitate empfänglich sind? „Wir hoffen“,
schrieb Lammenais, „das Reich der Gewalt zu Boden zu
schmettern und an seine Stelle das Reich der Gerechtig-
keit und der Liebe zu setzen, welches zwischen den Gliedern
der grossen Menschenfamilie jene Einigkeit erzeugt, in der jedes
Individuum als Teil des Ganzen gilt und am allgemeinen Wohl
teil hat“ 54). Sind das religiöse Mucken? Der Atheismus der
Enzyklopädisten hatte ihn abgestossen, wie ihn die Megalo-
manie und der Atheismus der Junghegelianer abstiess. Er
suchte die Emanzipation der Menschheit in der Macht
religiösen Brüderbewusstseins und er brach, als er die Frei-
heit nicht fand, kühn und konsequent mit der Kirche und
demselben Papst Gregor, der ihn einen neuen Bossuet und
den letzten der Kirchenväter hatte rühmen lassen. Sind die
Kapitel IV, XIII, XX, XXXV und XXXVI der „Paroles d'un
Croyant“ religiöse Mucken oder aktuellste Prophetie, und
haben wir in unserer sozialistischen Literatur diesem grossen

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[147/0155] Franz Mehring, der zwar ein grosser Marxist, aber auch ein grosser Patriot ist, hat sich darüber bitter geäussert ⁵²⁾ . „Lammenais hielt den Herausgebern einen zweistündigen Vortrag über seine religiösen Mucken und erklärte dann, er werde ihre Taten abwarten, ehe er sich daran beteilige“. Louis Blanc, „dieser ängstliche Kleinbürger, konnte nicht von der süssen Gewohnheit lassen, sich die Kämpfe des praktischen Lebens in irgend einer Religion zu verhimmeln und sich dadurch ihr erschöpfendes Verständnis zu ver- rammeln“ ⁵³⁾ . „Einige hatten zugesagt (Lamartine z. B.), aber nichts geliefert, andere sagten in manchmal nicht erfreulicher Weise ab“. Mehring verkennt aber in krasser Weise und ungerecht wie alle Marxisten und gerade die Ueberzeugtesten sind, die damalige intellektuelle Situation. Er spricht von Lammenais' „religiösen Mucken“. Sollte er den grossartigen prinzipiellen Kampf nicht kennen, den Lammenais gerade damals mit der Kirche ausfocht? Haben die Marxisten so sehr die Wahrheit und die Methode gepachtet, dass sie nur noch für Marx-Zitate empfänglich sind? „Wir hoffen“, schrieb Lammenais, „das Reich der Gewalt zu Boden zu schmettern und an seine Stelle das Reich der Gerechtig- keit und der Liebe zu setzen, welches zwischen den Gliedern der grossen Menschenfamilie jene Einigkeit erzeugt, in der jedes Individuum als Teil des Ganzen gilt und am allgemeinen Wohl teil hat“ ⁵⁴⁾ . Sind das religiöse Mucken? Der Atheismus der Enzyklopädisten hatte ihn abgestossen, wie ihn die Megalo- manie und der Atheismus der Junghegelianer abstiess. Er suchte die Emanzipation der Menschheit in der Macht religiösen Brüderbewusstseins und er brach, als er die Frei- heit nicht fand, kühn und konsequent mit der Kirche und demselben Papst Gregor, der ihn einen neuen Bossuet und den letzten der Kirchenväter hatte rühmen lassen. Sind die Kapitel IV, XIII, XX, XXXV und XXXVI der „Paroles d'un Croyant“ religiöse Mucken oder aktuellste Prophetie, und haben wir in unserer sozialistischen Literatur diesem grossen

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/155>, abgerufen am 24.11.2024.