dem Verzicht auf den Staat. Karl Marx, ein Schüler Proud- hons und Hegels, fand die Prinzipien einer neuen (prole- tarischen und materiellen) Geschichtsbetrachtung. Michael Bakunin und sein grosser russischer Lehrer, der Dekabrist Pestel, stellten den Föderalismus und die Dezentralisation der Staaten für die Neuordnung der slavischen Welt und Europas auf. Mazzini aber und Lammenais, Weitling und Tolstoi versuchten die Freiheit unabhängig von der Kirche zu heiligen und schufen so, Thomas Münzer grüssend, den Begriff des christlichen Anarchisten, Demokraten, Republi- kaners und Revolutionärs.
Die Resultante aller dieser Prinzipien muss in unseren Köpfen und Händen neues Leben gewinnen, wenn wir das heutige deutsche Staatssystem nicht nur beschimpfen, son- dern treffen und auflösen wollen. Enthusiastisch zu jedem Opfer bereit muss die deutsche Jugend sich verbünden mit dem Freiheitsgeist aller uns fürchtenden Völker, wenn sie nicht an der Zukunft ihrer Nation verzweifelnd, den Kampf aufgeben und sich zynisch verkriechen will. Rücksichtslos gilt es, die ganze Erbärmlichkeit des sogenannten deutschen Geisteslebens aufzudecken, und erst wenn wir dahinter- gekommen sind, wie viel hier gesündigt, versäumt und getäuscht worden ist; wenn Männer unter uns selbst den Mut finden, einzugestehen, dass wir in Sachen der Mensch- heit und Menschlichkeit die hinterhältigste, feigste und be- quemste Nation der Welt gewesen sind, erst dann werden wir festen und sicheren Boden finden, an der Gerechtigkeit mitzubauen und uns dem Sumpf zu entwinden, wo man noch immer verkappte Servilität für Finesse und Tiefsinn hält, Religion, Kunst und Philosophie aber für eine Maske vor dem Tiergesicht.
Voraussetzung dieses Buches ist: dass das neudeutsche Regime, das mit gesegnetem Appetit heute Belgier und Franzosen, Italiener und Russen verschlingt; das allen Ernstes sich damit beschäftigt zeigt, den mittelalterlich-
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dem Verzicht auf den Staat. Karl Marx, ein Schüler Proud- hons und Hegels, fand die Prinzipien einer neuen (prole- tarischen und materiellen) Geschichtsbetrachtung. Michael Bakunin und sein grosser russischer Lehrer, der Dekabrist Pestel, stellten den Föderalismus und die Dezentralisation der Staaten für die Neuordnung der slavischen Welt und Europas auf. Mazzini aber und Lammenais, Weitling und Tolstoi versuchten die Freiheit unabhängig von der Kirche zu heiligen und schufen so, Thomas Münzer grüssend, den Begriff des christlichen Anarchisten, Demokraten, Republi- kaners und Revolutionärs.
Die Resultante aller dieser Prinzipien muss in unseren Köpfen und Händen neues Leben gewinnen, wenn wir das heutige deutsche Staatssystem nicht nur beschimpfen, son- dern treffen und auflösen wollen. Enthusiastisch zu jedem Opfer bereit muss die deutsche Jugend sich verbünden mit dem Freiheitsgeist aller uns fürchtenden Völker, wenn sie nicht an der Zukunft ihrer Nation verzweifelnd, den Kampf aufgeben und sich zynisch verkriechen will. Rücksichtslos gilt es, die ganze Erbärmlichkeit des sogenannten deutschen Geisteslebens aufzudecken, und erst wenn wir dahinter- gekommen sind, wie viel hier gesündigt, versäumt und getäuscht worden ist; wenn Männer unter uns selbst den Mut finden, einzugestehen, dass wir in Sachen der Mensch- heit und Menschlichkeit die hinterhältigste, feigste und be- quemste Nation der Welt gewesen sind, erst dann werden wir festen und sicheren Boden finden, an der Gerechtigkeit mitzubauen und uns dem Sumpf zu entwinden, wo man noch immer verkappte Servilität für Finesse und Tiefsinn hält, Religion, Kunst und Philosophie aber für eine Maske vor dem Tiergesicht.
Voraussetzung dieses Buches ist: dass das neudeutsche Regime, das mit gesegnetem Appetit heute Belgier und Franzosen, Italiener und Russen verschlingt; das allen Ernstes sich damit beschäftigt zeigt, den mittelalterlich-
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dem Verzicht auf den Staat. Karl Marx, ein Schüler Proud-
hons und Hegels, fand die Prinzipien einer neuen (prole-
tarischen und materiellen) Geschichtsbetrachtung. Michael
Bakunin und sein grosser russischer Lehrer, der Dekabrist
Pestel, stellten den Föderalismus und die Dezentralisation
der Staaten für die Neuordnung der slavischen Welt und
Europas auf. Mazzini aber und Lammenais, Weitling und
Tolstoi versuchten die Freiheit unabhängig von der Kirche
zu heiligen und schufen so, Thomas Münzer grüssend, den
Begriff des christlichen Anarchisten, Demokraten, Republi-
kaners und Revolutionärs.
Die Resultante aller dieser Prinzipien muss in unseren
Köpfen und Händen neues Leben gewinnen, wenn wir das
heutige deutsche Staatssystem nicht nur beschimpfen, son-
dern treffen und auflösen wollen. Enthusiastisch zu jedem
Opfer bereit muss die deutsche Jugend sich verbünden mit
dem Freiheitsgeist aller uns fürchtenden Völker, wenn sie
nicht an der Zukunft ihrer Nation verzweifelnd, den Kampf
aufgeben und sich zynisch verkriechen will. Rücksichtslos
gilt es, die ganze Erbärmlichkeit des sogenannten deutschen
Geisteslebens aufzudecken, und erst wenn wir dahinter-
gekommen sind, wie viel hier gesündigt, versäumt und
getäuscht worden ist; wenn Männer unter uns selbst den
Mut finden, einzugestehen, dass wir in Sachen der Mensch-
heit und Menschlichkeit die hinterhältigste, feigste und be-
quemste Nation der Welt gewesen sind, erst dann werden
wir festen und sicheren Boden finden, an der Gerechtigkeit
mitzubauen und uns dem Sumpf zu entwinden, wo man
noch immer verkappte Servilität für Finesse und Tiefsinn
hält, Religion, Kunst und Philosophie aber für eine Maske
vor dem Tiergesicht.
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Regime, das mit gesegnetem Appetit heute Belgier und
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/137>, abgerufen am 22.11.2024.
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