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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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als uns verwandt empfinden. Es gibt keine Pragmatik,
keine Idee und Entwicklung, die der Wille einer Persön-
lichkeit nicht durchbrechen kann, es gibt keine "Zwangs-
läufigkeiten"; Mensch sein, heisst der Natur überlegen sein,
alles andere ist Aberglaube. Wir sind zwar überall in
Banden, aber freigeboren nach Rousseaus Wort, und es ist
nur Kleinmut, Ausflucht und erbärmliche Feigheit, Staats-
pfaffen, Magistern und Entwicklungstheologen mehr zu
glauben als dem Genie. Die Geschichte "entwickelt" sich
nicht "zu immer höheren Formen", sie tut's nicht "von selbst".

Der preussische Staat hat ein Blutbad angerichtet in der
Welt und vorher die Grundlagen des Gewissens zu unter-
graben versucht. Die Menschheit stirbt und verwest, wenn
wir ihr nicht zur Hilfe kommen. An diesem Werke der
freien Vernunft soll auch der Geringste unter uns mitarbeiten,
denn für sein Recht, für seine Liebe, für seine Vernunft
kämpfen wir. Und wir kämpfen dafür, weil unsere eigene
Vernunft Einbusse erleidet, so lange nicht der Geringste,
Gedrückteste und Verlorenste der menschlichen Gesellschaft
in Stand gesetzt ist, sein eigenes Wort zu sagen, das viel-
leicht die Erlösung für Alle enthält. Es gibt keinen Menschen,
der alles allein weiss, und es gäbe keinen Staat, der sich
anmasste, alles allein und am besten zu wissen, wenn die
Gelehrten uns nicht verraten hätten und jeder von uns
seine Meinung offen zur Geltung brächte. Die Trägheit
ist die einzige Todsünde des Menschen, und alles Unglück
und Elend, das uns verdirbt, kommt nur von ihr.

"Wenn Deutschland nicht der Ort ist", sagt der Staats-
mogul Rathenau, "wo alle Pragmatik als Willensübertragung
transzendent ethischer Wertung und nur als diese betrachtet
werden muss, so haben wir uns über die deutsche Sendung
getäuscht" 196). Wer sind diese "Wir" und wer lacht da
nicht? Was die "transzendent ethische Wertung" ist, von
der Herr Rathenau spricht, habe ich gezeigt in den Ab-
schnitten über Luther, Kant, Fichte, und hier über Hegel.

als uns verwandt empfinden. Es gibt keine Pragmatik,
keine Idee und Entwicklung, die der Wille einer Persön-
lichkeit nicht durchbrechen kann, es gibt keine „Zwangs-
läufigkeiten“; Mensch sein, heisst der Natur überlegen sein,
alles andere ist Aberglaube. Wir sind zwar überall in
Banden, aber freigeboren nach Rousseaus Wort, und es ist
nur Kleinmut, Ausflucht und erbärmliche Feigheit, Staats-
pfaffen, Magistern und Entwicklungstheologen mehr zu
glauben als dem Genie. Die Geschichte „entwickelt“ sich
nicht „zu immer höheren Formen“, sie tut's nicht „von selbst“.

Der preussische Staat hat ein Blutbad angerichtet in der
Welt und vorher die Grundlagen des Gewissens zu unter-
graben versucht. Die Menschheit stirbt und verwest, wenn
wir ihr nicht zur Hilfe kommen. An diesem Werke der
freien Vernunft soll auch der Geringste unter uns mitarbeiten,
denn für sein Recht, für seine Liebe, für seine Vernunft
kämpfen wir. Und wir kämpfen dafür, weil unsere eigene
Vernunft Einbusse erleidet, so lange nicht der Geringste,
Gedrückteste und Verlorenste der menschlichen Gesellschaft
in Stand gesetzt ist, sein eigenes Wort zu sagen, das viel-
leicht die Erlösung für Alle enthält. Es gibt keinen Menschen,
der alles allein weiss, und es gäbe keinen Staat, der sich
anmasste, alles allein und am besten zu wissen, wenn die
Gelehrten uns nicht verraten hätten und jeder von uns
seine Meinung offen zur Geltung brächte. Die Trägheit
ist die einzige Todsünde des Menschen, und alles Unglück
und Elend, das uns verdirbt, kommt nur von ihr.

„Wenn Deutschland nicht der Ort ist“, sagt der Staats-
mogul Rathenau, „wo alle Pragmatik als Willensübertragung
transzendent ethischer Wertung und nur als diese betrachtet
werden muss, so haben wir uns über die deutsche Sendung
getäuscht“ 196). Wer sind diese „Wir“ und wer lacht da
nicht? Was die „transzendent ethische Wertung“ ist, von
der Herr Rathenau spricht, habe ich gezeigt in den Ab-
schnitten über Luther, Kant, Fichte, und hier über Hegel.

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[122/0130] als uns verwandt empfinden. Es gibt keine Pragmatik, keine Idee und Entwicklung, die der Wille einer Persön- lichkeit nicht durchbrechen kann, es gibt keine „Zwangs- läufigkeiten“; Mensch sein, heisst der Natur überlegen sein, alles andere ist Aberglaube. Wir sind zwar überall in Banden, aber freigeboren nach Rousseaus Wort, und es ist nur Kleinmut, Ausflucht und erbärmliche Feigheit, Staats- pfaffen, Magistern und Entwicklungstheologen mehr zu glauben als dem Genie. Die Geschichte „entwickelt“ sich nicht „zu immer höheren Formen“, sie tut's nicht „von selbst“. Der preussische Staat hat ein Blutbad angerichtet in der Welt und vorher die Grundlagen des Gewissens zu unter- graben versucht. Die Menschheit stirbt und verwest, wenn wir ihr nicht zur Hilfe kommen. An diesem Werke der freien Vernunft soll auch der Geringste unter uns mitarbeiten, denn für sein Recht, für seine Liebe, für seine Vernunft kämpfen wir. Und wir kämpfen dafür, weil unsere eigene Vernunft Einbusse erleidet, so lange nicht der Geringste, Gedrückteste und Verlorenste der menschlichen Gesellschaft in Stand gesetzt ist, sein eigenes Wort zu sagen, das viel- leicht die Erlösung für Alle enthält. Es gibt keinen Menschen, der alles allein weiss, und es gäbe keinen Staat, der sich anmasste, alles allein und am besten zu wissen, wenn die Gelehrten uns nicht verraten hätten und jeder von uns seine Meinung offen zur Geltung brächte. Die Trägheit ist die einzige Todsünde des Menschen, und alles Unglück und Elend, das uns verdirbt, kommt nur von ihr. „Wenn Deutschland nicht der Ort ist“, sagt der Staats- mogul Rathenau, „wo alle Pragmatik als Willensübertragung transzendent ethischer Wertung und nur als diese betrachtet werden muss, so haben wir uns über die deutsche Sendung getäuscht“ ¹⁹⁶⁾ . Wer sind diese „Wir“ und wer lacht da nicht? Was die „transzendent ethische Wertung“ ist, von der Herr Rathenau spricht, habe ich gezeigt in den Ab- schnitten über Luther, Kant, Fichte, und hier über Hegel.

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/130>, abgerufen am 23.11.2024.