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Bäumer, Gertrud: „Unreife Rabiatheit“. In: Die Frau 9 (1906), S. 513-519.

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"Unreife Rabiatheit."
Erklärung haben die Frauenstimmrechtsvereine abgegeben. Dazu kommt, daß am 19. Mai
Campbell-Bannermann eine Deputation der Frauen empfangen wird, die tatsächlich die
große Frauenstimmrechtsbewegung repräsentieren. Dieser Empfang, der von großer
politischer Bedeutung ist, wird sicherlich den Vorfall ganz zurücktreten lassen. Und so
ist vielleicht der Schaden, den die Sache davon trägt, in England selbst nicht so sehr
groß. Die englischen Abgeordneten werden sich überzeugen, - sofern sie noch nicht davon
überzeugt sind - daß diese Radaufreude wirklich nur auf einen ganz kleinen Herd
beschränkt ist und man daraus keine Schlüsse auf die politische Reife und die Haltung
der Majorität der englischen Frauen ziehen kann. Übrigens ist auch zu bemerken, daß,
wenn auch in der Geschichte des Parlaments die Ladies' Gallery noch niemals zwangs-
weise geräumt werden mußte, das bei den für die Männer bestimmten Tribünen nicht
selten geschehen ist, ohne daß man daraus Konsequenzen auf die politische Reife der
Männer zog.

Jm ganzen wird also das Ausland aus dem Vorfall mehr Kapital schlagen.
Und bei uns in Deutschland ist die Sache natürlich ein köstlicher Fund für viele. Die
Zeitungen sind voll davon gewesen. Es hat sich einmal wieder gezeigt, daß man die
Frauenbewegung nicht wirksamer in aller Mund bringen kann, als durch solche Er-
eignisse, nach denen die Reporter dürsten. Und es ist ja eigentlich nichts leichter als
derartige Scenen zu arrangieren, es gehört nur ein wenig Geschmacklosigkeit und -
manche nennen es "Mut" dazu. Fraglich ist es nur, wie weit ein solches Erzwingen
der öffentlichen Aufmerksamkeit der Sache dienlich ist. Susan B. Anthony hat über
diese Frage des Geschmacks in der Agitation einmal ein sehr weises Wort gesprochen.
Sie hat eine Zeit gehabt, in der sie auch meinte, ihrer Sache zu nützen, wenn sie
ihre Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung möglichst entschieden zum Ausdruck
brachte. Sie legte sich ein Bloomer-costume, d. h. Männerkleidung zu, und betrat
damit die Plattform. "Aber ich merkte bald", sagt sie, "daß die Leute sich mehr für
meinen Anzug als für meine Rede interessierten und meinten, in meinem Äußeren läge
das Wesentliche des Neuen, was ich ihnen verkündete. Und ich sah, daß es gut ist,
immer nur eine Sache auf einmal zu wollen, und alles zu vermeiden, was das
Publikum von dieser einen Hauptsache ablenken könnte." Seitdem bemühte sie sich,
alles Auffallende in Kleidung und Auftreten zu vermeiden.

Daß über die Art, wie für die Frauenbewegung Propaganda zu machen ist,
auch bei uns die allerverschiedensten Ansichten herrschen, ist nur selbstverständlich. Es
hängt ja diese Frage auch so mit der Persönlichkeit zusammen. Dem einen "steht"
eine Art der öffentlichen Propaganda, die bei dem andern geschmacklos sein würde.
Für das eine Land paßt eine Form der Agitation, die in einem anderen immer
unpopulär und deshalb erfolglos bleiben wird. Jm ganzen ist man in Deutschland
aristokratischer in der Wahl und der Beurteilung propagandistischer Mittel, und es ist
die Frage, ob z. B. das von den amerikanischen und französischen Frauen über-
nommene Aufkleben von "Stimmrechtsmarken" auf Briefe mehr Erfolg hat, als dem
Postbeamten eine Freude zu bereiten.

Aber dem mag sein, wie ihm will, und man mag zugestehen, daß wir
vielleicht in Deutschland etwas zu prüde und empfindlich gegenüber den Mitteln
sind, die man braucht, um die Massen zu bearbeiten, - schlimmer ist es,
wenn die "Rabiatheit" nicht in den Mitteln, sondern in den Ansichten selbst zu
Tage tritt.

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„Unreife Rabiatheit.“
Erklärung haben die Frauenstimmrechtsvereine abgegeben. Dazu kommt, daß am 19. Mai
Campbell-Bannermann eine Deputation der Frauen empfangen wird, die tatsächlich die
große Frauenstimmrechtsbewegung repräsentieren. Dieser Empfang, der von großer
politischer Bedeutung ist, wird sicherlich den Vorfall ganz zurücktreten lassen. Und so
ist vielleicht der Schaden, den die Sache davon trägt, in England selbst nicht so sehr
groß. Die englischen Abgeordneten werden sich überzeugen, – sofern sie noch nicht davon
überzeugt sind – daß diese Radaufreude wirklich nur auf einen ganz kleinen Herd
beschränkt ist und man daraus keine Schlüsse auf die politische Reife und die Haltung
der Majorität der englischen Frauen ziehen kann. Übrigens ist auch zu bemerken, daß,
wenn auch in der Geschichte des Parlaments die Ladies' Gallery noch niemals zwangs-
weise geräumt werden mußte, das bei den für die Männer bestimmten Tribünen nicht
selten geschehen ist, ohne daß man daraus Konsequenzen auf die politische Reife der
Männer zog.

Jm ganzen wird also das Ausland aus dem Vorfall mehr Kapital schlagen.
Und bei uns in Deutschland ist die Sache natürlich ein köstlicher Fund für viele. Die
Zeitungen sind voll davon gewesen. Es hat sich einmal wieder gezeigt, daß man die
Frauenbewegung nicht wirksamer in aller Mund bringen kann, als durch solche Er-
eignisse, nach denen die Reporter dürsten. Und es ist ja eigentlich nichts leichter als
derartige Scenen zu arrangieren, es gehört nur ein wenig Geschmacklosigkeit und –
manche nennen es „Mut“ dazu. Fraglich ist es nur, wie weit ein solches Erzwingen
der öffentlichen Aufmerksamkeit der Sache dienlich ist. Susan B. Anthony hat über
diese Frage des Geschmacks in der Agitation einmal ein sehr weises Wort gesprochen.
Sie hat eine Zeit gehabt, in der sie auch meinte, ihrer Sache zu nützen, wenn sie
ihre Unabhängigkeit von der öffentlichen Meinung möglichst entschieden zum Ausdruck
brachte. Sie legte sich ein Bloomer-costume, d. h. Männerkleidung zu, und betrat
damit die Plattform. „Aber ich merkte bald“, sagt sie, „daß die Leute sich mehr für
meinen Anzug als für meine Rede interessierten und meinten, in meinem Äußeren läge
das Wesentliche des Neuen, was ich ihnen verkündete. Und ich sah, daß es gut ist,
immer nur eine Sache auf einmal zu wollen, und alles zu vermeiden, was das
Publikum von dieser einen Hauptsache ablenken könnte.“ Seitdem bemühte sie sich,
alles Auffallende in Kleidung und Auftreten zu vermeiden.

Daß über die Art, wie für die Frauenbewegung Propaganda zu machen ist,
auch bei uns die allerverschiedensten Ansichten herrschen, ist nur selbstverständlich. Es
hängt ja diese Frage auch so mit der Persönlichkeit zusammen. Dem einen „steht“
eine Art der öffentlichen Propaganda, die bei dem andern geschmacklos sein würde.
Für das eine Land paßt eine Form der Agitation, die in einem anderen immer
unpopulär und deshalb erfolglos bleiben wird. Jm ganzen ist man in Deutschland
aristokratischer in der Wahl und der Beurteilung propagandistischer Mittel, und es ist
die Frage, ob z. B. das von den amerikanischen und französischen Frauen über-
nommene Aufkleben von „Stimmrechtsmarken“ auf Briefe mehr Erfolg hat, als dem
Postbeamten eine Freude zu bereiten.

Aber dem mag sein, wie ihm will, und man mag zugestehen, daß wir
vielleicht in Deutschland etwas zu prüde und empfindlich gegenüber den Mitteln
sind, die man braucht, um die Massen zu bearbeiten, – schlimmer ist es,
wenn die „Rabiatheit“ nicht in den Mitteln, sondern in den Ansichten selbst zu
Tage tritt.

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-07-07T09:44:53Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Bäumer, Gertrud: „Unreife Rabiatheit“. In: Die Frau 9 (1906), S. 513-519, hier S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baeumer_rabiatheit_1906/3>, abgerufen am 18.12.2024.