Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite
Scholion VI.
Allgemeinstes. Resultat.


Ueberblicken wir den Inhalt sämmtlicher Scholien, so geht aus ihm ein
allgemeinstes Resultat hervor. Wir fanden, dass die Wirkung der Zeugung darin
besteht, einen Theil zu einem Ganzen zu erheben (Schol. II.); dass in der Ent-
wickelung die Selbstständigkeit im Verhältniss zu seiner Umgebung wächst
(Schol. II.), so wie die Bestimmtheit seiner Gestaltung (Schol. I.); dass in der
innern Ausbildung aus allgemeineren Theilen speciellere sich hervorbilden und
deren Besonderheit wächst (Schol. III.); dass das Individuum als Inhaber einer
bestimmten organischen Form allmählig aus allgemeineren Formen in die mehr
besonderen übergeht (Schol. V.), und können nun das allgemeinste Resultat der
Untersuchungen und Betrachtungen wohl so aussprechen:

Die Entwickelungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsen-
den Individualität in jeglicher Beziehung.

Dieses allgemeinste Resultat ist freilich so einfach, dass es keines Beweises durch
Beobachtung zu bedürfen, sondern a priori erkannt werden zu müssen scheint.
Allein wir glauben, dass diese Einfachheit nur das Gepräge der Wahrheit und
eben deshalb auch Bürge derselben ist. Hätte man das Wesen der Entwickelungs-
geschichte von vorn herein so erkannt, wie wir es eben ausgesprochen haben,
so hätte man daraus auch deduciren können und sollen, dass das Individuum
einer bestimmten Thierform diese erreicht, indem es aus einer allgemeinern in
die besondere übergeht. Allein die Erfahrung lehrt überall, dass die Deductionen
immer sicherer werden, wenn ihre Resultate vorher durch die Beobachtung
ermittelt sind. Der Mensch müsste ein noch grösseres geistiges Erbtheil erhalten
haben, als er wirklich besitzt, wenn es anders seyn sollte.

Hat aber das eben ausgesprochene allgemeinste Resultat Wahrheit und
Inhalt, so ist es Ein Grundgedanke, der durch alle Formen und Stufen der

Scholion VI.
Allgemeinstes. Resultat.


Ueberblicken wir den Inhalt sämmtlicher Scholien, so geht aus ihm ein
allgemeinstes Resultat hervor. Wir fanden, daſs die Wirkung der Zeugung darin
besteht, einen Theil zu einem Ganzen zu erheben (Schol. II.); daſs in der Ent-
wickelung die Selbstständigkeit im Verhältniſs zu seiner Umgebung wächst
(Schol. II.), so wie die Bestimmtheit seiner Gestaltung (Schol. I.); daſs in der
innern Ausbildung aus allgemeineren Theilen speciellere sich hervorbilden und
deren Besonderheit wächst (Schol. III.); daſs das Individuum als Inhaber einer
bestimmten organischen Form allmählig aus allgemeineren Formen in die mehr
besonderen übergeht (Schol. V.), und können nun das allgemeinste Resultat der
Untersuchungen und Betrachtungen wohl so aussprechen:

Die Entwickelungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsen-
den Individualität in jeglicher Beziehung.

Dieses allgemeinste Resultat ist freilich so einfach, daſs es keines Beweises durch
Beobachtung zu bedürfen, sondern a priori erkannt werden zu müssen scheint.
Allein wir glauben, daſs diese Einfachheit nur das Gepräge der Wahrheit und
eben deshalb auch Bürge derselben ist. Hätte man das Wesen der Entwickelungs-
geschichte von vorn herein so erkannt, wie wir es eben ausgesprochen haben,
so hätte man daraus auch deduciren können und sollen, daſs das Individuum
einer bestimmten Thierform diese erreicht, indem es aus einer allgemeinern in
die besondere übergeht. Allein die Erfahrung lehrt überall, daſs die Deductionen
immer sicherer werden, wenn ihre Resultate vorher durch die Beobachtung
ermittelt sind. Der Mensch müſste ein noch gröſseres geistiges Erbtheil erhalten
haben, als er wirklich besitzt, wenn es anders seyn sollte.

Hat aber das eben ausgesprochene allgemeinste Resultat Wahrheit und
Inhalt, so ist es Ein Grundgedanke, der durch alle Formen und Stufen der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0295" n="263"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Scholion VI.<lb/>
Allgemeinstes. Resultat.</hi> </hi> </head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Ueberblicken wir den Inhalt sämmtlicher Scholien, so geht aus ihm ein<lb/>
allgemeinstes Resultat hervor. Wir fanden, da&#x017F;s die Wirkung der Zeugung darin<lb/>
besteht, einen Theil zu einem Ganzen zu erheben (Schol. II.); da&#x017F;s in der Ent-<lb/>
wickelung die Selbstständigkeit im Verhältni&#x017F;s zu seiner Umgebung wächst<lb/>
(Schol. II.), so wie die Bestimmtheit seiner Gestaltung (Schol. I.); da&#x017F;s in der<lb/>
innern Ausbildung aus allgemeineren Theilen speciellere sich hervorbilden und<lb/>
deren Besonderheit wächst (Schol. III.); da&#x017F;s das Individuum als Inhaber einer<lb/>
bestimmten organischen Form allmählig aus allgemeineren Formen in die mehr<lb/>
besonderen übergeht (Schol. V.), und können nun das allgemeinste Resultat der<lb/>
Untersuchungen und Betrachtungen wohl so aussprechen:</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#i">Die Entwickelungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsen-<lb/>
den Individualität in jeglicher Beziehung.</hi> </p><lb/>
          <p>Dieses allgemeinste Resultat ist freilich so einfach, da&#x017F;s es keines Beweises durch<lb/>
Beobachtung zu bedürfen, sondern <hi rendition="#i">a priori</hi> erkannt werden zu müssen scheint.<lb/>
Allein wir glauben, da&#x017F;s diese Einfachheit nur das Gepräge der Wahrheit und<lb/>
eben deshalb auch Bürge derselben ist. Hätte man das Wesen der Entwickelungs-<lb/>
geschichte von vorn herein so erkannt, wie wir es eben ausgesprochen haben,<lb/>
so hätte man daraus auch deduciren können und sollen, da&#x017F;s das Individuum<lb/>
einer bestimmten Thierform diese erreicht, indem es aus einer allgemeinern in<lb/>
die besondere übergeht. Allein die Erfahrung lehrt überall, da&#x017F;s die Deductionen<lb/>
immer sicherer werden, wenn ihre Resultate vorher durch die Beobachtung<lb/>
ermittelt sind. Der Mensch mü&#x017F;ste ein noch grö&#x017F;seres geistiges Erbtheil erhalten<lb/>
haben, als er wirklich besitzt, wenn es anders seyn sollte.</p><lb/>
          <p>Hat aber das eben ausgesprochene allgemeinste Resultat Wahrheit und<lb/>
Inhalt, so ist es <hi rendition="#i">Ein</hi> Grundgedanke, der durch alle Formen und Stufen der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[263/0295] Scholion VI. Allgemeinstes. Resultat. Ueberblicken wir den Inhalt sämmtlicher Scholien, so geht aus ihm ein allgemeinstes Resultat hervor. Wir fanden, daſs die Wirkung der Zeugung darin besteht, einen Theil zu einem Ganzen zu erheben (Schol. II.); daſs in der Ent- wickelung die Selbstständigkeit im Verhältniſs zu seiner Umgebung wächst (Schol. II.), so wie die Bestimmtheit seiner Gestaltung (Schol. I.); daſs in der innern Ausbildung aus allgemeineren Theilen speciellere sich hervorbilden und deren Besonderheit wächst (Schol. III.); daſs das Individuum als Inhaber einer bestimmten organischen Form allmählig aus allgemeineren Formen in die mehr besonderen übergeht (Schol. V.), und können nun das allgemeinste Resultat der Untersuchungen und Betrachtungen wohl so aussprechen: Die Entwickelungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsen- den Individualität in jeglicher Beziehung. Dieses allgemeinste Resultat ist freilich so einfach, daſs es keines Beweises durch Beobachtung zu bedürfen, sondern a priori erkannt werden zu müssen scheint. Allein wir glauben, daſs diese Einfachheit nur das Gepräge der Wahrheit und eben deshalb auch Bürge derselben ist. Hätte man das Wesen der Entwickelungs- geschichte von vorn herein so erkannt, wie wir es eben ausgesprochen haben, so hätte man daraus auch deduciren können und sollen, daſs das Individuum einer bestimmten Thierform diese erreicht, indem es aus einer allgemeinern in die besondere übergeht. Allein die Erfahrung lehrt überall, daſs die Deductionen immer sicherer werden, wenn ihre Resultate vorher durch die Beobachtung ermittelt sind. Der Mensch müſste ein noch gröſseres geistiges Erbtheil erhalten haben, als er wirklich besitzt, wenn es anders seyn sollte. Hat aber das eben ausgesprochene allgemeinste Resultat Wahrheit und Inhalt, so ist es Ein Grundgedanke, der durch alle Formen und Stufen der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/295
Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/295>, abgerufen am 25.11.2024.