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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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Die Ansicht hat, wie ich glaube, viel mehr unbewusste als bewusste Au-
hänger. Es scheint mir nämlich, dass aus längst verflossener Zeit sich eine Menge
Vorstellungen, die auf der Ansicht von einer Stufenleiter beruhen, sich fortge-
pflanzt haben und ohne dass wir es wüssten, unsrer Ansicht der organischen Ver-
wandtschaft eine Farbe geben, die nicht aus der Untersuchung stammt. Sind die
Behauptungen, dass die Cephalopoden oder die Krebse sich an die Fische anschlie-
ssen oder gar in sie übergehen, nicht Ausdrücke dieser Grundansicht? Aus einer
unmittelbaren und freien Vergleichung der Organisation können sie doch wohl
nicht hervorgegangen seyn. Eben so unbegreiflich ist die Verbindung zwischen
den Echinodermen und Mollusken. Gehen diese Versuche, zwischen zwei entlege-
nen Ländern Brücken zu schlagen, nicht aus dem Bestreben hervor, jedes Glied auf
zwei Seiten anzuknüpfen? Hatte man nämlich die Crustaceen aus dem Typus, der
in den gegliederten Thieren herrscht, verstehen gelernt, so wollte man nun, da
man sie als die am meisten ausgebildeten derselben betrachtete, (womit ich nicht
einstimmen möchte,) auch von ihnen weiter gehen. Eben so glaubte man, es müsse
ein Weg von dem höchsten Strahlthiere zu andern Ländern führen. -- Sehen wir
aber nach unsrer Ansicht die einzelnen Formen oder Gruppen von Formen als Va-
riationen auf ein Thema an, so werden wir die Uebergänge nur einzeln finden
und nur als Folge der Umbildungsfähigkeit einer Form, eben deshalb nicht als an
sich nothwendig und bestimmend. Dann werden wir nicht verleitet werden, im
Heterogen Uebereinstimmung zu finden, indem wir die Stufenfolge nicht als das
Bedingende der thierischen Formverschiedenheiten ansehen.

Die Streitfrage, ob die gegliederten Thiere oder die Mollusken höher ste-
hen, scheint mir ebenfalls nur auf dieser Ansicht einer einreihigen Ausbildung zu
beruhen. Fasst man das Wesen der verschiedenen Typen gehörig auf, so scheint
es leicht einsichtlich, wie in dem einen die plastischen Bildungen vorherrschen,
in dem andern Empfindungs- und Bewegungsorgane. Das Herz und die Leber
der Mollusken, so wie überhaupt ihre Drüsen, werden uns also wohl nicht be-
stimmen können, sie höher als die gegliederten Thiere zu stellen. Beinahe eben
so einseitig wäre es, diese alle über die Mollusken zu stellen, obgleich sie im All-
gemeinen doch durch grössere Mannigfaltigkeit der Aeusserungen des Lebens eher
auf eine solche Stelle Anspruch machen könnten. Im Grunde hat aber jeder die-
ser Abschnitte des Thierreiches sein eigenes Maass, welches nur aus seinem Ty-
pus genommen werden darf. Je grösser die histologische und morphologische Son-
derung, desto höher nach unsrer Ansicht die Ausbildung innerhalb desselben Ty-
pus. Eine geringere morphologische Sonderung ist aber immer eine Annäherung
an den Grundtypus. Niedriger organisirt scheinen uns also die Anneliden wegen

Die Ansicht hat, wie ich glaube, viel mehr unbewuſste als bewuſste Au-
hänger. Es scheint mir nämlich, daſs aus längst verflossener Zeit sich eine Menge
Vorstellungen, die auf der Ansicht von einer Stufenleiter beruhen, sich fortge-
pflanzt haben und ohne daſs wir es wüſsten, unsrer Ansicht der organischen Ver-
wandtschaft eine Farbe geben, die nicht aus der Untersuchung stammt. Sind die
Behauptungen, daſs die Cephalopoden oder die Krebse sich an die Fische anschlie-
ſsen oder gar in sie übergehen, nicht Ausdrücke dieser Grundansicht? Aus einer
unmittelbaren und freien Vergleichung der Organisation können sie doch wohl
nicht hervorgegangen seyn. Eben so unbegreiflich ist die Verbindung zwischen
den Echinodermen und Mollusken. Gehen diese Versuche, zwischen zwei entlege-
nen Ländern Brücken zu schlagen, nicht aus dem Bestreben hervor, jedes Glied auf
zwei Seiten anzuknüpfen? Hatte man nämlich die Crustaceen aus dem Typus, der
in den gegliederten Thieren herrscht, verstehen gelernt, so wollte man nun, da
man sie als die am meisten ausgebildeten derselben betrachtete, (womit ich nicht
einstimmen möchte,) auch von ihnen weiter gehen. Eben so glaubte man, es müsse
ein Weg von dem höchsten Strahlthiere zu andern Ländern führen. — Sehen wir
aber nach unsrer Ansicht die einzelnen Formen oder Gruppen von Formen als Va-
riationen auf ein Thema an, so werden wir die Uebergänge nur einzeln finden
und nur als Folge der Umbildungsfähigkeit einer Form, eben deshalb nicht als an
sich nothwendig und bestimmend. Dann werden wir nicht verleitet werden, im
Heterogen Uebereinstimmung zu finden, indem wir die Stufenfolge nicht als das
Bedingende der thierischen Formverschiedenheiten ansehen.

Die Streitfrage, ob die gegliederten Thiere oder die Mollusken höher ste-
hen, scheint mir ebenfalls nur auf dieser Ansicht einer einreihigen Ausbildung zu
beruhen. Faſst man das Wesen der verschiedenen Typen gehörig auf, so scheint
es leicht einsichtlich, wie in dem einen die plastischen Bildungen vorherrschen,
in dem andern Empfindungs- und Bewegungsorgane. Das Herz und die Leber
der Mollusken, so wie überhaupt ihre Drüsen, werden uns also wohl nicht be-
stimmen können, sie höher als die gegliederten Thiere zu stellen. Beinahe eben
so einseitig wäre es, diese alle über die Mollusken zu stellen, obgleich sie im All-
gemeinen doch durch gröſsere Mannigfaltigkeit der Aeuſserungen des Lebens eher
auf eine solche Stelle Anspruch machen könnten. Im Grunde hat aber jeder die-
ser Abschnitte des Thierreiches sein eigenes Maaſs, welches nur aus seinem Ty-
pus genommen werden darf. Je gröſser die histologische und morphologische Son-
derung, desto höher nach unsrer Ansicht die Ausbildung innerhalb desselben Ty-
pus. Eine geringere morphologische Sonderung ist aber immer eine Annäherung
an den Grundtypus. Niedriger organisirt scheinen uns also die Anneliden wegen

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[238/0270] Die Ansicht hat, wie ich glaube, viel mehr unbewuſste als bewuſste Au- hänger. Es scheint mir nämlich, daſs aus längst verflossener Zeit sich eine Menge Vorstellungen, die auf der Ansicht von einer Stufenleiter beruhen, sich fortge- pflanzt haben und ohne daſs wir es wüſsten, unsrer Ansicht der organischen Ver- wandtschaft eine Farbe geben, die nicht aus der Untersuchung stammt. Sind die Behauptungen, daſs die Cephalopoden oder die Krebse sich an die Fische anschlie- ſsen oder gar in sie übergehen, nicht Ausdrücke dieser Grundansicht? Aus einer unmittelbaren und freien Vergleichung der Organisation können sie doch wohl nicht hervorgegangen seyn. Eben so unbegreiflich ist die Verbindung zwischen den Echinodermen und Mollusken. Gehen diese Versuche, zwischen zwei entlege- nen Ländern Brücken zu schlagen, nicht aus dem Bestreben hervor, jedes Glied auf zwei Seiten anzuknüpfen? Hatte man nämlich die Crustaceen aus dem Typus, der in den gegliederten Thieren herrscht, verstehen gelernt, so wollte man nun, da man sie als die am meisten ausgebildeten derselben betrachtete, (womit ich nicht einstimmen möchte,) auch von ihnen weiter gehen. Eben so glaubte man, es müsse ein Weg von dem höchsten Strahlthiere zu andern Ländern führen. — Sehen wir aber nach unsrer Ansicht die einzelnen Formen oder Gruppen von Formen als Va- riationen auf ein Thema an, so werden wir die Uebergänge nur einzeln finden und nur als Folge der Umbildungsfähigkeit einer Form, eben deshalb nicht als an sich nothwendig und bestimmend. Dann werden wir nicht verleitet werden, im Heterogen Uebereinstimmung zu finden, indem wir die Stufenfolge nicht als das Bedingende der thierischen Formverschiedenheiten ansehen. Die Streitfrage, ob die gegliederten Thiere oder die Mollusken höher ste- hen, scheint mir ebenfalls nur auf dieser Ansicht einer einreihigen Ausbildung zu beruhen. Faſst man das Wesen der verschiedenen Typen gehörig auf, so scheint es leicht einsichtlich, wie in dem einen die plastischen Bildungen vorherrschen, in dem andern Empfindungs- und Bewegungsorgane. Das Herz und die Leber der Mollusken, so wie überhaupt ihre Drüsen, werden uns also wohl nicht be- stimmen können, sie höher als die gegliederten Thiere zu stellen. Beinahe eben so einseitig wäre es, diese alle über die Mollusken zu stellen, obgleich sie im All- gemeinen doch durch gröſsere Mannigfaltigkeit der Aeuſserungen des Lebens eher auf eine solche Stelle Anspruch machen könnten. Im Grunde hat aber jeder die- ser Abschnitte des Thierreiches sein eigenes Maaſs, welches nur aus seinem Ty- pus genommen werden darf. Je gröſser die histologische und morphologische Son- derung, desto höher nach unsrer Ansicht die Ausbildung innerhalb desselben Ty- pus. Eine geringere morphologische Sonderung ist aber immer eine Annäherung an den Grundtypus. Niedriger organisirt scheinen uns also die Anneliden wegen

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/270>, abgerufen am 28.11.2024.