Sehr natürlich also, dass der Embryo der Säugethiere dem Fische ähnlicher ist, als der Embryo des Fisches dem Säugethiere. Wenn man nun im Fische nichts erkennt, als das wenig ausgebildete Wirbelthier (und das ist die unbegründete Annahme, deren wir oben erwähnten), so muss man das Säugethier für einen höher ausgebildeten Fisch halten, und dann ist es ganz consequent zu sagen, der Embryo des Wirbelthieres sey anfangs ein Fisch. Deswegen durfte ich früher behaupten (§. 1.), dass mit der herrschenden Ansicht über das Entwickelungs- gesetz die Ansicht von einer einseitigen Stufenleiter der Thiere nothwendig sich verbindet. Nun ist aber der Fisch nicht bloss ein unvollkommenes Wirbelthier, sondern hat ausserdem noch den Fischcharacter, wie die Entwickelungsgeschichte deutlich nachweist.
Doch schon genug! Ich habe versucht, in der Versinnlichung des Ent- wickelungsganges auch darzustellen, wie der Embryo des Menschen allerdings dem Fische näher steht, als umgekehrt, indem er sich weiter vom Grundtypus entfernt, und nur aus diesem Grunde ist manches Problematische, wie die Nabel- schnur der Monotremen, mit aufgenommen. Im Einzelnen kann diese Darstellung eben so wenig alle Relationen richtig geben, wie jede andre Abbildung organi- scher Verwandtschaften auf einer Fläche, auch wenn die Untersuchung schon beendigt wäre, die doch kaum begonnen ist.
Wir fassen nur noch den Inhalt dieses Paragraphen an seinem Schlusse zusammen. Die Entwickelung eines Individuums einer bestimmten Thierform wird von zwei Verhältnissen bestimmt. 1) Von einer fortgehenden Ausbildung des thierischen Körpers durch wachsende histologische und morphologische Son- derung; 2) zugleich durch Fortbildung aus einer allgemeinern Form in eine mehr besondere.
Corollarien zum fünften Scholion.
Die Entwickelungsgeschichte ist der wahre Lichtträger für Untersuchungen über organische Körper. Bei jedem Schritte findet sie ihre Auwendung, und alle Vorstellungen, welche wir von den gegenseitigen Verhältnissen der organischen Körper haben, werden den Einfluss unsrer Kenntniss der Entwickelungsgeschichte erfahren. Es wäre eine fast endlose Arbeit, den Beweis für alle Zweige der Forschung führen zu wollen. Da aber jene Vorstellungen von selbst sich umge- stalten müssen, wenn man den Entwickelungsfortgang anders aufgefasst hat, so
Sehr natürlich also, daſs der Embryo der Säugethiere dem Fische ähnlicher ist, als der Embryo des Fisches dem Säugethiere. Wenn man nun im Fische nichts erkennt, als das wenig ausgebildete Wirbelthier (und das ist die unbegründete Annahme, deren wir oben erwähnten), so muſs man das Säugethier für einen höher ausgebildeten Fisch halten, und dann ist es ganz consequent zu sagen, der Embryo des Wirbelthieres sey anfangs ein Fisch. Deswegen durfte ich früher behaupten (§. 1.), daſs mit der herrschenden Ansicht über das Entwickelungs- gesetz die Ansicht von einer einseitigen Stufenleiter der Thiere nothwendig sich verbindet. Nun ist aber der Fisch nicht bloſs ein unvollkommenes Wirbelthier, sondern hat auſserdem noch den Fischcharacter, wie die Entwickelungsgeschichte deutlich nachweist.
Doch schon genug! Ich habe versucht, in der Versinnlichung des Ent- wickelungsganges auch darzustellen, wie der Embryo des Menschen allerdings dem Fische näher steht, als umgekehrt, indem er sich weiter vom Grundtypus entfernt, und nur aus diesem Grunde ist manches Problematische, wie die Nabel- schnur der Monotremen, mit aufgenommen. Im Einzelnen kann diese Darstellung eben so wenig alle Relationen richtig geben, wie jede andre Abbildung organi- scher Verwandtschaften auf einer Fläche, auch wenn die Untersuchung schon beendigt wäre, die doch kaum begonnen ist.
Wir fassen nur noch den Inhalt dieses Paragraphen an seinem Schlusse zusammen. Die Entwickelung eines Individuums einer bestimmten Thierform wird von zwei Verhältnissen bestimmt. 1) Von einer fortgehenden Ausbildung des thierischen Körpers durch wachsende histologische und morphologische Son- derung; 2) zugleich durch Fortbildung aus einer allgemeinern Form in eine mehr besondere.
Corollarien zum fünften Scholion.
Die Entwickelungsgeschichte ist der wahre Lichtträger für Untersuchungen über organische Körper. Bei jedem Schritte findet sie ihre Auwendung, und alle Vorstellungen, welche wir von den gegenseitigen Verhältnissen der organischen Körper haben, werden den Einfluſs unsrer Kenntniſs der Entwickelungsgeschichte erfahren. Es wäre eine fast endlose Arbeit, den Beweis für alle Zweige der Forschung führen zu wollen. Da aber jene Vorstellungen von selbst sich umge- stalten müssen, wenn man den Entwickelungsfortgang anders aufgefaſst hat, so
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Sehr natürlich also, daſs der Embryo der Säugethiere dem Fische ähnlicher ist,
als der Embryo des Fisches dem Säugethiere. Wenn man nun im Fische nichts
erkennt, als das wenig ausgebildete Wirbelthier (und das ist die unbegründete
Annahme, deren wir oben erwähnten), so muſs man das Säugethier für einen
höher ausgebildeten Fisch halten, und dann ist es ganz consequent zu sagen, der
Embryo des Wirbelthieres sey anfangs ein Fisch. Deswegen durfte ich früher
behaupten (§. 1.), daſs mit der herrschenden Ansicht über das Entwickelungs-
gesetz die Ansicht von einer einseitigen Stufenleiter der Thiere nothwendig sich
verbindet. Nun ist aber der Fisch nicht bloſs ein unvollkommenes Wirbelthier,
sondern hat auſserdem noch den Fischcharacter, wie die Entwickelungsgeschichte
deutlich nachweist.
Doch schon genug! Ich habe versucht, in der Versinnlichung des Ent-
wickelungsganges auch darzustellen, wie der Embryo des Menschen allerdings
dem Fische näher steht, als umgekehrt, indem er sich weiter vom Grundtypus
entfernt, und nur aus diesem Grunde ist manches Problematische, wie die Nabel-
schnur der Monotremen, mit aufgenommen. Im Einzelnen kann diese Darstellung
eben so wenig alle Relationen richtig geben, wie jede andre Abbildung organi-
scher Verwandtschaften auf einer Fläche, auch wenn die Untersuchung schon
beendigt wäre, die doch kaum begonnen ist.
Wir fassen nur noch den Inhalt dieses Paragraphen an seinem Schlusse
zusammen. Die Entwickelung eines Individuums einer bestimmten Thierform
wird von zwei Verhältnissen bestimmt. 1) Von einer fortgehenden Ausbildung
des thierischen Körpers durch wachsende histologische und morphologische Son-
derung; 2) zugleich durch Fortbildung aus einer allgemeinern Form in eine mehr
besondere.
Corollarien zum fünften Scholion.
Die Entwickelungsgeschichte ist der wahre Lichtträger für Untersuchungen
über organische Körper. Bei jedem Schritte findet sie ihre Auwendung, und alle
Vorstellungen, welche wir von den gegenseitigen Verhältnissen der organischen
Körper haben, werden den Einfluſs unsrer Kenntniſs der Entwickelungsgeschichte
erfahren. Es wäre eine fast endlose Arbeit, den Beweis für alle Zweige der
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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/263>, abgerufen am 21.07.2024.
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