los bewegten Volkslebens und von dem dichten Nebel der Un- wissenheit und des Aberglaubens verdeckt und schwer zu untersuchen ist. Jnteressant bleiben aber die wilden, wunderlichen Formen selbst in der Vereinzelung und niemals verleugnet es sich ganz, daß der zerrissene und zerklüftete Boden, über welchem jene Er- scheinungen hervorragen, ein durchaus deutscher Boden ist.
Je leichter es ist, bei dem Charakter der deutschen Gauner- sprache, als deutscher Volkssprache, auf die Grammatik der letztern zu verweisen, desto gebotener ist es, die einzelnen gaunersprachlichen Documente selbst in ihrer historischen Erscheinung ins Auge zu fassen, sie in ihrer vollen Zeit und Eigenthümlichkeit darzustellen und zu charakterisiren, und somit im einzelnen das historische Ge- sammtbild einer Gaunergrammatik zu geben.
Bei der Kritik dieser historischen Spracherscheinungen sind mehrere besondere Rücksichten zu nehmen. Vor allem muß man festhalten, daß, mit alleiniger Ausnahme der höchst merkwürdig dastehenden "Wahrhaften Entdeckung der Jaunersprache" des "Con- stanzer Hans" 1791, kein einziges Werk und sei es das dürrste Wörterverzeichniß, bekannt ist, welches unmittelbar aus gauneri- scher Feder geflossen ist. Das ist besonders deshalb in Betracht zu ziehen, weil die Redaction selbst der verbürgtermaßen direct aus Gaunermunde geschöpften und somit als glaubhaft originell er- scheinenden Ausdrücke und Sammlungen bei der mysteriösen Ab- geschlossenheit und gänzlichen Fremdartigkeit der gaunersprachlichen Ausdrücke von jeher unkritisch und unsicher war, wovon bis zur Stunde die schlagendsten Beispiele vorliegen. Besonders ist dabei die Redaction der meistens ganz unbegriffenen jüdischdeutschen und zigeunerischen Wortzuthaten sehr ungelenk und unklar, wenn auch in den von lebenden fremden Sprachen hergeleiteten Gaunerwör- tern die fremde Abstammung meistens deutlich zu erkennen ist. Sehr wichtig für das Kriterium der Redaction ist schon von vorn- herein der Vergleich des baseler Rathsmandats mit seiner spätern Bearbeitung im Liber Vagatorum, welcher letztere nicht nur durch viele Schreib- und Druckfehler, sondern auch durch sehr bedeutende
Ave-Lallemant, Gaunerthum. IV. 4
los bewegten Volkslebens und von dem dichten Nebel der Un- wiſſenheit und des Aberglaubens verdeckt und ſchwer zu unterſuchen iſt. Jntereſſant bleiben aber die wilden, wunderlichen Formen ſelbſt in der Vereinzelung und niemals verleugnet es ſich ganz, daß der zerriſſene und zerklüftete Boden, über welchem jene Er- ſcheinungen hervorragen, ein durchaus deutſcher Boden iſt.
Je leichter es iſt, bei dem Charakter der deutſchen Gauner- ſprache, als deutſcher Volksſprache, auf die Grammatik der letztern zu verweiſen, deſto gebotener iſt es, die einzelnen gaunerſprachlichen Documente ſelbſt in ihrer hiſtoriſchen Erſcheinung ins Auge zu faſſen, ſie in ihrer vollen Zeit und Eigenthümlichkeit darzuſtellen und zu charakteriſiren, und ſomit im einzelnen das hiſtoriſche Ge- ſammtbild einer Gaunergrammatik zu geben.
Bei der Kritik dieſer hiſtoriſchen Spracherſcheinungen ſind mehrere beſondere Rückſichten zu nehmen. Vor allem muß man feſthalten, daß, mit alleiniger Ausnahme der höchſt merkwürdig daſtehenden „Wahrhaften Entdeckung der Jaunerſprache“ des „Con- ſtanzer Hans“ 1791, kein einziges Werk und ſei es das dürrſte Wörterverzeichniß, bekannt iſt, welches unmittelbar aus gauneri- ſcher Feder gefloſſen iſt. Das iſt beſonders deshalb in Betracht zu ziehen, weil die Redaction ſelbſt der verbürgtermaßen direct aus Gaunermunde geſchöpften und ſomit als glaubhaft originell er- ſcheinenden Ausdrücke und Sammlungen bei der myſteriöſen Ab- geſchloſſenheit und gänzlichen Fremdartigkeit der gaunerſprachlichen Ausdrücke von jeher unkritiſch und unſicher war, wovon bis zur Stunde die ſchlagendſten Beiſpiele vorliegen. Beſonders iſt dabei die Redaction der meiſtens ganz unbegriffenen jüdiſchdeutſchen und zigeuneriſchen Wortzuthaten ſehr ungelenk und unklar, wenn auch in den von lebenden fremden Sprachen hergeleiteten Gaunerwör- tern die fremde Abſtammung meiſtens deutlich zu erkennen iſt. Sehr wichtig für das Kriterium der Redaction iſt ſchon von vorn- herein der Vergleich des baſeler Rathsmandats mit ſeiner ſpätern Bearbeitung im Liber Vagatorum, welcher letztere nicht nur durch viele Schreib- und Druckfehler, ſondern auch durch ſehr bedeutende
Avé-Lallemant, Gaunerthum. IV. 4
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los bewegten Volkslebens und von dem dichten Nebel der Un-
wiſſenheit und des Aberglaubens verdeckt und ſchwer zu unterſuchen
iſt. Jntereſſant bleiben aber die wilden, wunderlichen Formen
ſelbſt in der Vereinzelung und niemals verleugnet es ſich ganz,
daß der zerriſſene und zerklüftete Boden, über welchem jene Er-
ſcheinungen hervorragen, ein durchaus deutſcher Boden iſt.
Je leichter es iſt, bei dem Charakter der deutſchen Gauner-
ſprache, als deutſcher Volksſprache, auf die Grammatik der letztern
zu verweiſen, deſto gebotener iſt es, die einzelnen gaunerſprachlichen
Documente ſelbſt in ihrer hiſtoriſchen Erſcheinung ins Auge zu
faſſen, ſie in ihrer vollen Zeit und Eigenthümlichkeit darzuſtellen
und zu charakteriſiren, und ſomit im einzelnen das hiſtoriſche Ge-
ſammtbild einer Gaunergrammatik zu geben.
Bei der Kritik dieſer hiſtoriſchen Spracherſcheinungen ſind
mehrere beſondere Rückſichten zu nehmen. Vor allem muß man
feſthalten, daß, mit alleiniger Ausnahme der höchſt merkwürdig
daſtehenden „Wahrhaften Entdeckung der Jaunerſprache“ des „Con-
ſtanzer Hans“ 1791, kein einziges Werk und ſei es das dürrſte
Wörterverzeichniß, bekannt iſt, welches unmittelbar aus gauneri-
ſcher Feder gefloſſen iſt. Das iſt beſonders deshalb in Betracht
zu ziehen, weil die Redaction ſelbſt der verbürgtermaßen direct aus
Gaunermunde geſchöpften und ſomit als glaubhaft originell er-
ſcheinenden Ausdrücke und Sammlungen bei der myſteriöſen Ab-
geſchloſſenheit und gänzlichen Fremdartigkeit der gaunerſprachlichen
Ausdrücke von jeher unkritiſch und unſicher war, wovon bis zur
Stunde die ſchlagendſten Beiſpiele vorliegen. Beſonders iſt dabei
die Redaction der meiſtens ganz unbegriffenen jüdiſchdeutſchen und
zigeuneriſchen Wortzuthaten ſehr ungelenk und unklar, wenn auch
in den von lebenden fremden Sprachen hergeleiteten Gaunerwör-
tern die fremde Abſtammung meiſtens deutlich zu erkennen iſt.
Sehr wichtig für das Kriterium der Redaction iſt ſchon von vorn-
herein der Vergleich des baſeler Rathsmandats mit ſeiner ſpätern
Bearbeitung im Liber Vagatorum, welcher letztere nicht nur durch
viele Schreib- und Druckfehler, ſondern auch durch ſehr bedeutende
Avé-Lallemant, Gaunerthum. IV. 4
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/61>, abgerufen am 23.11.2024.
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