Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862.

Bild:
<< vorherige Seite

schließt und je nach dem socialen Bildungsgrade der Jndividuali-
tät diese Flexionen mit mehr oder minder deutlicher Correctheit
sichtbar werden läßt, weicht sie in der Wahl und Bildung des
Wortvorraths insofern erheblich ab von der "Sprache der Bil-
dung", als sie nach dem Grundsatze der Nützlichkeit geflissentlich
das Mundartige da zur Geltung bringt, wo es zum Zweck des
geheimen Verständnisses förderlich und zugleich der gewöhnlichen
Verkehrssprache fremd oder entlegen ist. Keineswegs ist aber die
in der Gaunersprache sehr scharf hervortretende bunte mundartige
Mischung eine überall künstlich ersonnene und absichtlich zusam-
mengesetzte, sondern sie ist lediglich eine im allmählichen Verlauf
der Zeit und des Volksverkehrs aus allen Ecken und Enden des
Landes zufällig zusammengebrachte, aber nach dem Princip der
Nützlichkeit mit kluger Auswahl gesichtete und mit zäher Treue
bewahrte traditionelle Wortmenge. Daraus erklärt sich das Vor-
kommen mancher althochdeutscher und mittelhochdeutscher Wörter,
welche in der wechselnden Hegemonie des fränkischen, schwäbischen
und meißnischen Dialekts vom Gaunerthum mitten aus der Fülle
der deutschen Volkssprache herausgegriffen und mit seltener Treue
bis zur Stunde festgehalten wurden, wenn sie auch vielfach ver-
färbt und oft kaum noch zu erkennen sind. Nimmt man das erste
beste Wort, z. B. das althochdeutsche huoh, huah, Schande, huo-
hon, honan,
schänden, auszischen, huolich (bei Notker), schändlich,
und honida 1) (bei Ottfried), Schande; goth. hauns, niedrig,
schwach, haunjan, erniedrigen, hauneins, Niedrigkeit (vgl. J. Gau-

1) Jn phonetischer Hinsicht ist das Zusammentreffen mit dem hebräischen
[irrelevantes Material - Zeichen fehlt], nida, jüdischd. [irrelevantes Material - Zeichen fehlt], hanida, gewiß nur zufällig. Keineswegs scheint
aber die Bedeutung des jüdischdeutschen hanida für Metze, Hure gemeinster Art,
und daher arges Schimpfwort, zufällig zu sein. Denn [irrelevantes Material - Zeichen fehlt] hat im Hebräischen
nur allgemein die Bedeutung des Greulichen, Unreinen, im physischen Sinne
(besonders wegen der Menstruation) wie im moralischen. Als Gegenstand, Per-
son des Greuels ist aber die der alten hebräischen Sprache fremde Bedeutung der
Metze wol erst später durch die deutsche Bedeutung der Schande, Erniedrigung, auf
das jüdischdeutsche [irrelevantes Material - Zeichen fehlt] übertragen worden. Selbst das deutsche Schande
scheint, wie Adelung, III, 1260, bemerkt, nur durch vorgesetzte Sibilation aus
dem Ottfried'schen honida entstanden zu sein.

ſchließt und je nach dem ſocialen Bildungsgrade der Jndividuali-
tät dieſe Flexionen mit mehr oder minder deutlicher Correctheit
ſichtbar werden läßt, weicht ſie in der Wahl und Bildung des
Wortvorraths inſofern erheblich ab von der „Sprache der Bil-
dung“, als ſie nach dem Grundſatze der Nützlichkeit gefliſſentlich
das Mundartige da zur Geltung bringt, wo es zum Zweck des
geheimen Verſtändniſſes förderlich und zugleich der gewöhnlichen
Verkehrsſprache fremd oder entlegen iſt. Keineswegs iſt aber die
in der Gaunerſprache ſehr ſcharf hervortretende bunte mundartige
Miſchung eine überall künſtlich erſonnene und abſichtlich zuſam-
mengeſetzte, ſondern ſie iſt lediglich eine im allmählichen Verlauf
der Zeit und des Volksverkehrs aus allen Ecken und Enden des
Landes zufällig zuſammengebrachte, aber nach dem Princip der
Nützlichkeit mit kluger Auswahl geſichtete und mit zäher Treue
bewahrte traditionelle Wortmenge. Daraus erklärt ſich das Vor-
kommen mancher althochdeutſcher und mittelhochdeutſcher Wörter,
welche in der wechſelnden Hegemonie des fränkiſchen, ſchwäbiſchen
und meißniſchen Dialekts vom Gaunerthum mitten aus der Fülle
der deutſchen Volksſprache herausgegriffen und mit ſeltener Treue
bis zur Stunde feſtgehalten wurden, wenn ſie auch vielfach ver-
färbt und oft kaum noch zu erkennen ſind. Nimmt man das erſte
beſte Wort, z. B. das althochdeutſche huoh, huah, Schande, huo-
hon, honan,
ſchänden, ausziſchen, huolich (bei Notker), ſchändlich,
und honida 1) (bei Ottfried), Schande; goth. hauns, niedrig,
ſchwach, haunjan, erniedrigen, hauneins, Niedrigkeit (vgl. J. Gau-

1) Jn phonetiſcher Hinſicht iſt das Zuſammentreffen mit dem hebräiſchen
[irrelevantes Material – Zeichen fehlt], nida, jüdiſchd. [irrelevantes Material – Zeichen fehlt], hanida, gewiß nur zufällig. Keineswegs ſcheint
aber die Bedeutung des jüdiſchdeutſchen hanida für Metze, Hure gemeinſter Art,
und daher arges Schimpfwort, zufällig zu ſein. Denn [irrelevantes Material – Zeichen fehlt] hat im Hebräiſchen
nur allgemein die Bedeutung des Greulichen, Unreinen, im phyſiſchen Sinne
(beſonders wegen der Menſtruation) wie im moraliſchen. Als Gegenſtand, Per-
ſon des Greuels iſt aber die der alten hebräiſchen Sprache fremde Bedeutung der
Metze wol erſt ſpäter durch die deutſche Bedeutung der Schande, Erniedrigung, auf
das jüdiſchdeutſche [irrelevantes Material – Zeichen fehlt] übertragen worden. Selbſt das deutſche Schande
ſcheint, wie Adelung, III, 1260, bemerkt, nur durch vorgeſetzte Sibilation aus
dem Ottfried’ſchen honida entſtanden zu ſein.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0288" n="276"/>
&#x017F;chließt und je nach dem &#x017F;ocialen Bildungsgrade der Jndividuali-<lb/>
tät die&#x017F;e Flexionen mit mehr oder minder deutlicher Correctheit<lb/>
&#x017F;ichtbar werden läßt, weicht &#x017F;ie in der Wahl und Bildung des<lb/>
Wortvorraths in&#x017F;ofern erheblich ab von der &#x201E;Sprache der Bil-<lb/>
dung&#x201C;, als &#x017F;ie nach dem Grund&#x017F;atze der Nützlichkeit gefli&#x017F;&#x017F;entlich<lb/>
das Mundartige da zur Geltung bringt, wo es zum Zweck des<lb/>
geheimen Ver&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;es förderlich und zugleich der gewöhnlichen<lb/>
Verkehrs&#x017F;prache fremd oder entlegen i&#x017F;t. Keineswegs i&#x017F;t aber die<lb/>
in der Gauner&#x017F;prache &#x017F;ehr &#x017F;charf hervortretende bunte mundartige<lb/>
Mi&#x017F;chung eine überall kün&#x017F;tlich er&#x017F;onnene und ab&#x017F;ichtlich zu&#x017F;am-<lb/>
menge&#x017F;etzte, &#x017F;ondern &#x017F;ie i&#x017F;t lediglich eine im allmählichen Verlauf<lb/>
der Zeit und des Volksverkehrs aus allen Ecken und Enden des<lb/>
Landes zufällig zu&#x017F;ammengebrachte, aber nach dem Princip der<lb/>
Nützlichkeit mit kluger Auswahl ge&#x017F;ichtete und mit zäher Treue<lb/>
bewahrte traditionelle Wortmenge. Daraus erklärt &#x017F;ich das Vor-<lb/>
kommen mancher althochdeut&#x017F;cher und mittelhochdeut&#x017F;cher Wörter,<lb/>
welche in der wech&#x017F;elnden Hegemonie des fränki&#x017F;chen, &#x017F;chwäbi&#x017F;chen<lb/>
und meißni&#x017F;chen Dialekts vom Gaunerthum mitten aus der Fülle<lb/>
der deut&#x017F;chen Volks&#x017F;prache herausgegriffen und mit &#x017F;eltener Treue<lb/>
bis zur Stunde fe&#x017F;tgehalten wurden, wenn &#x017F;ie auch vielfach ver-<lb/>
färbt und oft kaum noch zu erkennen &#x017F;ind. Nimmt man das er&#x017F;te<lb/>
be&#x017F;te Wort, z. B. das althochdeut&#x017F;che <hi rendition="#aq">huoh, huah,</hi> Schande, <hi rendition="#aq">huo-<lb/>
hon, honan,</hi> &#x017F;chänden, auszi&#x017F;chen, <hi rendition="#aq">huolich</hi> (bei Notker), &#x017F;chändlich,<lb/>
und <hi rendition="#aq">honida</hi> <note place="foot" n="1)">Jn phoneti&#x017F;cher Hin&#x017F;icht i&#x017F;t das Zu&#x017F;ammentreffen mit dem hebräi&#x017F;chen<lb/><gap reason="insignificant" unit="chars"/>, <hi rendition="#aq">nida,</hi> jüdi&#x017F;chd. <gap reason="insignificant" unit="chars"/>, <hi rendition="#aq">hanida,</hi> gewiß nur zufällig. Keineswegs &#x017F;cheint<lb/>
aber die Bedeutung des jüdi&#x017F;chdeut&#x017F;chen <hi rendition="#aq">hanida</hi> für Metze, Hure gemein&#x017F;ter Art,<lb/>
und daher arges Schimpfwort, zufällig zu &#x017F;ein. Denn <gap reason="insignificant" unit="chars"/> hat im Hebräi&#x017F;chen<lb/>
nur allgemein die Bedeutung des Greulichen, Unreinen, im phy&#x017F;i&#x017F;chen Sinne<lb/>
(be&#x017F;onders wegen der Men&#x017F;truation) wie im morali&#x017F;chen. Als Gegen&#x017F;tand, Per-<lb/>
&#x017F;on des Greuels i&#x017F;t aber die der alten hebräi&#x017F;chen Sprache fremde Bedeutung der<lb/>
Metze wol er&#x017F;t &#x017F;päter durch die deut&#x017F;che Bedeutung der Schande, Erniedrigung, auf<lb/>
das jüdi&#x017F;chdeut&#x017F;che <gap reason="insignificant" unit="chars"/> übertragen worden. Selb&#x017F;t das deut&#x017F;che <hi rendition="#g">Schande</hi><lb/>
&#x017F;cheint, wie Adelung, <hi rendition="#aq">III,</hi> 1260, bemerkt, nur durch vorge&#x017F;etzte Sibilation aus<lb/>
dem Ottfried&#x2019;&#x017F;chen <hi rendition="#aq">honida</hi> ent&#x017F;tanden zu &#x017F;ein.</note> (bei Ottfried), Schande; goth. <hi rendition="#aq">hauns,</hi> niedrig,<lb/>
&#x017F;chwach, <hi rendition="#aq">haunjan,</hi> erniedrigen, <hi rendition="#aq">hauneins,</hi> Niedrigkeit (vgl. J. Gau-<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0288] ſchließt und je nach dem ſocialen Bildungsgrade der Jndividuali- tät dieſe Flexionen mit mehr oder minder deutlicher Correctheit ſichtbar werden läßt, weicht ſie in der Wahl und Bildung des Wortvorraths inſofern erheblich ab von der „Sprache der Bil- dung“, als ſie nach dem Grundſatze der Nützlichkeit gefliſſentlich das Mundartige da zur Geltung bringt, wo es zum Zweck des geheimen Verſtändniſſes förderlich und zugleich der gewöhnlichen Verkehrsſprache fremd oder entlegen iſt. Keineswegs iſt aber die in der Gaunerſprache ſehr ſcharf hervortretende bunte mundartige Miſchung eine überall künſtlich erſonnene und abſichtlich zuſam- mengeſetzte, ſondern ſie iſt lediglich eine im allmählichen Verlauf der Zeit und des Volksverkehrs aus allen Ecken und Enden des Landes zufällig zuſammengebrachte, aber nach dem Princip der Nützlichkeit mit kluger Auswahl geſichtete und mit zäher Treue bewahrte traditionelle Wortmenge. Daraus erklärt ſich das Vor- kommen mancher althochdeutſcher und mittelhochdeutſcher Wörter, welche in der wechſelnden Hegemonie des fränkiſchen, ſchwäbiſchen und meißniſchen Dialekts vom Gaunerthum mitten aus der Fülle der deutſchen Volksſprache herausgegriffen und mit ſeltener Treue bis zur Stunde feſtgehalten wurden, wenn ſie auch vielfach ver- färbt und oft kaum noch zu erkennen ſind. Nimmt man das erſte beſte Wort, z. B. das althochdeutſche huoh, huah, Schande, huo- hon, honan, ſchänden, ausziſchen, huolich (bei Notker), ſchändlich, und honida 1) (bei Ottfried), Schande; goth. hauns, niedrig, ſchwach, haunjan, erniedrigen, hauneins, Niedrigkeit (vgl. J. Gau- 1) Jn phonetiſcher Hinſicht iſt das Zuſammentreffen mit dem hebräiſchen _ , nida, jüdiſchd. _ , hanida, gewiß nur zufällig. Keineswegs ſcheint aber die Bedeutung des jüdiſchdeutſchen hanida für Metze, Hure gemeinſter Art, und daher arges Schimpfwort, zufällig zu ſein. Denn _ hat im Hebräiſchen nur allgemein die Bedeutung des Greulichen, Unreinen, im phyſiſchen Sinne (beſonders wegen der Menſtruation) wie im moraliſchen. Als Gegenſtand, Per- ſon des Greuels iſt aber die der alten hebräiſchen Sprache fremde Bedeutung der Metze wol erſt ſpäter durch die deutſche Bedeutung der Schande, Erniedrigung, auf das jüdiſchdeutſche _ übertragen worden. Selbſt das deutſche Schande ſcheint, wie Adelung, III, 1260, bemerkt, nur durch vorgeſetzte Sibilation aus dem Ottfried’ſchen honida entſtanden zu ſein.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/288
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/288>, abgerufen am 24.11.2024.