rede, S. vii) Gottfried Selig offen als seinen Hauptgewährsmann, hat aber auch noch ersichtlich in die Meschummodlexikographie hin- eingegriffen, da er durchaus nicht, wie Thiele das thut, sich ein- seitig an die niedersächsische Mundart Selig's bindet. Hier trifft nun aber Grolman der Vorwurf, den ihm erstaunlicherweise Thiele macht, obschon dieser selbst noch viel schlimmer in denselben Fehler verfallen ist, der Vorwurf nämlich, daß er, anstatt fest und unbe- irrt den Blick auf den specifischen Gaunergebrauch zu richten, sich von der in den jüdischdeutschen Wörterbüchern angetroffenen Fülle jüdischdeutscher Ausdrücke befangen machen ließ, sich in der bunten Masse verwirrte und aus ihr jüdischdeutsche Terminologien in die Gaunersprache hineintrug, welche zwar jedem Gauner jüdi- scher Religion, als Juden und von Jugend auf im Jüdischdeut- schen geübtem Kenner, vollauf geläufig, jedoch nicht durchaus als technische Vocabulatur des gesammten Gaunerthums recipirt und statuirt waren. Es ist nicht leicht, diese Grenze überhaupt zu be- stimmen, da der mehr oder minder starke Gebrauch jüdischdeutscher Terminologien stets von der Zusammensetzung der einzelnen Gau- nergruppen abhängig ist, wie denn der auf die Eigenthümlichkeit der Vocabulatur gerichtete kritische Blick in den vorhandenen Wör- terbüchern aus den verschiedensten Zeiten immer auffällige, aber auch stets höchst interessante Fluctuationen entdeckt und somit diese Rücksicht wiederum für die Beurtheilung der persönlichen Con- struction der Gaunergruppen von erheblicher Wichtigkeit ist. Darum erfordert die Kritik der Gaunersprache eine gründliche Kenntniß aller der Sprachen, aus welchen sie ihre Typen zusammengelesen hat, ganz besonders aber ihrer beiden Hauptfactoren, der deutschen Sprache mit ihren Dialekten und der jüdischdeutschen Sprache, welche ihr sehr reichen Zufluß gespendet hat. Das sichere Krite- rium für Masse und Umfang der jüdischdeutschen Terminologien bleibt stets der technische Gaunerbedarf, dessen Vocabulatur nicht weiter gehen darf, als sie den Genossen verständlich bleiben und dazu die Möglichkeit des Geheimnisses vor den Laien aufrecht erhalten kann. Unbestreitbar hat Grolman dies Maß überschritten. Doch hat er die specifisch deutschen, zigeunerischen und romanischen
rede, S. vii) Gottfried Selig offen als ſeinen Hauptgewährsmann, hat aber auch noch erſichtlich in die Meſchummodlexikographie hin- eingegriffen, da er durchaus nicht, wie Thiele das thut, ſich ein- ſeitig an die niederſächſiſche Mundart Selig’s bindet. Hier trifft nun aber Grolman der Vorwurf, den ihm erſtaunlicherweiſe Thiele macht, obſchon dieſer ſelbſt noch viel ſchlimmer in denſelben Fehler verfallen iſt, der Vorwurf nämlich, daß er, anſtatt feſt und unbe- irrt den Blick auf den ſpecifiſchen Gaunergebrauch zu richten, ſich von der in den jüdiſchdeutſchen Wörterbüchern angetroffenen Fülle jüdiſchdeutſcher Ausdrücke befangen machen ließ, ſich in der bunten Maſſe verwirrte und aus ihr jüdiſchdeutſche Terminologien in die Gaunerſprache hineintrug, welche zwar jedem Gauner jüdi- ſcher Religion, als Juden und von Jugend auf im Jüdiſchdeut- ſchen geübtem Kenner, vollauf geläufig, jedoch nicht durchaus als techniſche Vocabulatur des geſammten Gaunerthums recipirt und ſtatuirt waren. Es iſt nicht leicht, dieſe Grenze überhaupt zu be- ſtimmen, da der mehr oder minder ſtarke Gebrauch jüdiſchdeutſcher Terminologien ſtets von der Zuſammenſetzung der einzelnen Gau- nergruppen abhängig iſt, wie denn der auf die Eigenthümlichkeit der Vocabulatur gerichtete kritiſche Blick in den vorhandenen Wör- terbüchern aus den verſchiedenſten Zeiten immer auffällige, aber auch ſtets höchſt intereſſante Fluctuationen entdeckt und ſomit dieſe Rückſicht wiederum für die Beurtheilung der perſönlichen Con- ſtruction der Gaunergruppen von erheblicher Wichtigkeit iſt. Darum erfordert die Kritik der Gaunerſprache eine gründliche Kenntniß aller der Sprachen, aus welchen ſie ihre Typen zuſammengeleſen hat, ganz beſonders aber ihrer beiden Hauptfactoren, der deutſchen Sprache mit ihren Dialekten und der jüdiſchdeutſchen Sprache, welche ihr ſehr reichen Zufluß geſpendet hat. Das ſichere Krite- rium für Maſſe und Umfang der jüdiſchdeutſchen Terminologien bleibt ſtets der techniſche Gaunerbedarf, deſſen Vocabulatur nicht weiter gehen darf, als ſie den Genoſſen verſtändlich bleiben und dazu die Möglichkeit des Geheimniſſes vor den Laien aufrecht erhalten kann. Unbeſtreitbar hat Grolman dies Maß überſchritten. Doch hat er die ſpecifiſch deutſchen, zigeuneriſchen und romaniſchen
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rede, S. vii) Gottfried Selig offen als ſeinen Hauptgewährsmann,
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ſeitig an die niederſächſiſche Mundart Selig’s bindet. Hier trifft
nun aber Grolman der Vorwurf, den ihm erſtaunlicherweiſe Thiele
macht, obſchon dieſer ſelbſt noch viel ſchlimmer in denſelben Fehler
verfallen iſt, der Vorwurf nämlich, daß er, anſtatt feſt und unbe-
irrt den Blick auf den ſpecifiſchen Gaunergebrauch zu richten,
ſich von der in den jüdiſchdeutſchen Wörterbüchern angetroffenen
Fülle jüdiſchdeutſcher Ausdrücke befangen machen ließ, ſich in der
bunten Maſſe verwirrte und aus ihr jüdiſchdeutſche Terminologien
in die Gaunerſprache hineintrug, welche zwar jedem Gauner jüdi-
ſcher Religion, als Juden und von Jugend auf im Jüdiſchdeut-
ſchen geübtem Kenner, vollauf geläufig, jedoch nicht durchaus als
techniſche Vocabulatur des geſammten Gaunerthums recipirt und
ſtatuirt waren. Es iſt nicht leicht, dieſe Grenze überhaupt zu be-
ſtimmen, da der mehr oder minder ſtarke Gebrauch jüdiſchdeutſcher
Terminologien ſtets von der Zuſammenſetzung der einzelnen Gau-
nergruppen abhängig iſt, wie denn der auf die Eigenthümlichkeit
der Vocabulatur gerichtete kritiſche Blick in den vorhandenen Wör-
terbüchern aus den verſchiedenſten Zeiten immer auffällige, aber
auch ſtets höchſt intereſſante Fluctuationen entdeckt und ſomit dieſe
Rückſicht wiederum für die Beurtheilung der perſönlichen Con-
ſtruction der Gaunergruppen von erheblicher Wichtigkeit iſt. Darum
erfordert die Kritik der Gaunerſprache eine gründliche Kenntniß
aller der Sprachen, aus welchen ſie ihre Typen zuſammengeleſen
hat, ganz beſonders aber ihrer beiden Hauptfactoren, der deutſchen
Sprache mit ihren Dialekten und der jüdiſchdeutſchen Sprache,
welche ihr ſehr reichen Zufluß geſpendet hat. Das ſichere Krite-
rium für Maſſe und Umfang der jüdiſchdeutſchen Terminologien
bleibt ſtets der techniſche Gaunerbedarf, deſſen Vocabulatur
nicht weiter gehen darf, als ſie den Genoſſen verſtändlich bleiben
und dazu die Möglichkeit des Geheimniſſes vor den Laien aufrecht
erhalten kann. Unbeſtreitbar hat Grolman dies Maß überſchritten.
Doch hat er die ſpecifiſch deutſchen, zigeuneriſchen und romaniſchen
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/265>, abgerufen am 24.11.2024.
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