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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862.

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Zweites Kapitel.
B. Die Grundlagen der Gaunerzinken.
1) Die Himmelsschrift, Engelsschrift, Kammerschrift und
Winkelschrift.

Bei den Kabbalisten findet man unter der Menge verschiede-
ner Alphabete auch eins, welches von ihnen für das älteste aus-
gegeben wird, dessen Moses und die Propheten lange vor der an-
geblich erst von Esdra eingeführten Quadratschrift sich bedient
haben sollen und dessen Charaktere und Gebrauch sehr geheim
gehalten wurden. Es wurde Scriptura coelestis, Himmelsschrift,
genannt. Ein anderes ihm ähnliches ist die Scriptura malachim,
Scriptura angelorum,
Engelsschrift, oder Scriptura melachim,
auch Scriptura regalis, Königsschrift, genannt. Ein drittes, bei-
den genannten Alphabeten weit weniger ähnliches ist die Scriptura
transitus fluvii.
Auf den ersten Blick erkennt man in allen drei
Alphabeten den so geheimnißvoll gehaltenen Schlüssel zu den
mysteriösen Charakteren der christlichen Zauberdogmatik, welche
selbst den volksbetrügerischen Zaubermystikern in ihrer ursprüng-
lichen Bedeutsamkeit zum größten Theil unbekannt waren und
nach und nach sowol in der figürlichen Darstellung wie im ur-
sprünglichen logischen Verständniß ganz und gar abflachten. Man
findet sie namentlich in allen Zauberkreisen, Nativitätstafeln u. dgl.,
bald vereinzelt, bald in mehr oder minder gedrängter Gruppirung,
meistens ohne logischen Zusammenhang und ohne inneres Verständ-
niß, und man kann darum nicht zweifelhaft sein, daß sie sämmt-
lich eine Erfindung der Kabbalisten selbst sind, namentlich wenn
man im Vergleich mit den alten semitischen Schriftarten 1) nur
entfernte Aehnlichkeiten oder mindestens arge Verstümmelungen jener
alten ursprünglichen Alphabete findet. Charakteristisch bei allen
drei Alphabeten ist, daß sie, zur absichtlichen Verstärkung ihrer

1) wozu schon die der achtzehnten Auflage der "Hebräischen Grammatik"
von Rödiger beigefügte vergleichende Tabelle vollkommen ausreicht.
Zweites Kapitel.
B. Die Grundlagen der Gaunerzinken.
1) Die Himmelsſchrift, Engelsſchrift, Kammerſchrift und
Winkelſchrift.

Bei den Kabbaliſten findet man unter der Menge verſchiede-
ner Alphabete auch eins, welches von ihnen für das älteſte aus-
gegeben wird, deſſen Moſes und die Propheten lange vor der an-
geblich erſt von Esdra eingeführten Quadratſchrift ſich bedient
haben ſollen und deſſen Charaktere und Gebrauch ſehr geheim
gehalten wurden. Es wurde Scriptura coelestis, Himmelsſchrift,
genannt. Ein anderes ihm ähnliches iſt die Scriptura malachim,
Scriptura angelorum,
Engelsſchrift, oder Scriptura melachim,
auch Scriptura regalis, Königsſchrift, genannt. Ein drittes, bei-
den genannten Alphabeten weit weniger ähnliches iſt die Scriptura
transitus fluvii.
Auf den erſten Blick erkennt man in allen drei
Alphabeten den ſo geheimnißvoll gehaltenen Schlüſſel zu den
myſteriöſen Charakteren der chriſtlichen Zauberdogmatik, welche
ſelbſt den volksbetrügeriſchen Zaubermyſtikern in ihrer urſprüng-
lichen Bedeutſamkeit zum größten Theil unbekannt waren und
nach und nach ſowol in der figürlichen Darſtellung wie im ur-
ſprünglichen logiſchen Verſtändniß ganz und gar abflachten. Man
findet ſie namentlich in allen Zauberkreiſen, Nativitätstafeln u. dgl.,
bald vereinzelt, bald in mehr oder minder gedrängter Gruppirung,
meiſtens ohne logiſchen Zuſammenhang und ohne inneres Verſtänd-
niß, und man kann darum nicht zweifelhaft ſein, daß ſie ſämmt-
lich eine Erfindung der Kabbaliſten ſelbſt ſind, namentlich wenn
man im Vergleich mit den alten ſemitiſchen Schriftarten 1) nur
entfernte Aehnlichkeiten oder mindeſtens arge Verſtümmelungen jener
alten urſprünglichen Alphabete findet. Charakteriſtiſch bei allen
drei Alphabeten iſt, daß ſie, zur abſichtlichen Verſtärkung ihrer

1) wozu ſchon die der achtzehnten Auflage der „Hebräiſchen Grammatik“
von Rödiger beigefügte vergleichende Tabelle vollkommen ausreicht.
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[4/0016] Zweites Kapitel. B. Die Grundlagen der Gaunerzinken. 1) Die Himmelsſchrift, Engelsſchrift, Kammerſchrift und Winkelſchrift. Bei den Kabbaliſten findet man unter der Menge verſchiede- ner Alphabete auch eins, welches von ihnen für das älteſte aus- gegeben wird, deſſen Moſes und die Propheten lange vor der an- geblich erſt von Esdra eingeführten Quadratſchrift ſich bedient haben ſollen und deſſen Charaktere und Gebrauch ſehr geheim gehalten wurden. Es wurde Scriptura coelestis, Himmelsſchrift, genannt. Ein anderes ihm ähnliches iſt die Scriptura malachim, Scriptura angelorum, Engelsſchrift, oder Scriptura melachim, auch Scriptura regalis, Königsſchrift, genannt. Ein drittes, bei- den genannten Alphabeten weit weniger ähnliches iſt die Scriptura transitus fluvii. Auf den erſten Blick erkennt man in allen drei Alphabeten den ſo geheimnißvoll gehaltenen Schlüſſel zu den myſteriöſen Charakteren der chriſtlichen Zauberdogmatik, welche ſelbſt den volksbetrügeriſchen Zaubermyſtikern in ihrer urſprüng- lichen Bedeutſamkeit zum größten Theil unbekannt waren und nach und nach ſowol in der figürlichen Darſtellung wie im ur- ſprünglichen logiſchen Verſtändniß ganz und gar abflachten. Man findet ſie namentlich in allen Zauberkreiſen, Nativitätstafeln u. dgl., bald vereinzelt, bald in mehr oder minder gedrängter Gruppirung, meiſtens ohne logiſchen Zuſammenhang und ohne inneres Verſtänd- niß, und man kann darum nicht zweifelhaft ſein, daß ſie ſämmt- lich eine Erfindung der Kabbaliſten ſelbſt ſind, namentlich wenn man im Vergleich mit den alten ſemitiſchen Schriftarten 1) nur entfernte Aehnlichkeiten oder mindeſtens arge Verſtümmelungen jener alten urſprünglichen Alphabete findet. Charakteriſtiſch bei allen drei Alphabeten iſt, daß ſie, zur abſichtlichen Verſtärkung ihrer 1) wozu ſchon die der achtzehnten Auflage der „Hebräiſchen Grammatik“ von Rödiger beigefügte vergleichende Tabelle vollkommen ausreicht.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/16>, abgerufen am 21.11.2024.