Train1) nicht etwa als kritische Historiker, sondern alles Ernstes als wirkliche Apologeten und Restauratoren des Galimatias auf- erstanden sind und beide die Gaunersprache in schlimmster Unkennt- niß ihres Wesens und ihrer historischen Entwickelung mit diesem Galimatias versetzt haben.
Um die ganze in der That merkwürdige Erscheinung recht deutlich begreifen zu können, muß man einen Blick auf das Ende des Mittelalters zurückthun. Es ist bereits Th. I, S. 117 fg. dar- auf hingewiesen worden, daß das schon im 14. Jahrhundert mit Begeisterung getriebene Studium der altclassischen Literatur im 15. Jahrhundert in Deutschland und den Niederlanden Eingang ge- funden und erweckend und erfrischend auf das deutsche Volksleben und auf die Volkspoesie gewirkt hatte. Die altclassische Bildung faßte besonders durch Rudolf Agricola (+ 1485), Rudolf Lange (+ 1519), Konrad Celtes (+ 1508), Johann Reuchlin (+ 1522), Desiderius Erasmus von Rotterdam (+ 1536) und Philipp Me- lanchthon (+ 1560) festen Boden in Deutschland, während die deutsche Sprache durch Sebastian Brant (+ 1522), Thomas Mur- ner (+ 1537), Johann Geiler von Kaisersberg (+ 1510), Johann Turnmayr von Abensberg (Aventinus, + 1534) und besonders Sebastian Franck (+ 1545) größere Cultur, durch Luther aber mit seiner wunderbar einfachen Kraft, Fülle, Gewandtheit und tiefen Gemüthlichkeit des Ausdrucks neue Gestaltung und Norm erhielt und dadurch erst zum eigensten Neuhochdeutsch übergeführt wurde. Die deutsche Predigt und der deutsche Kirchengesang wurden Hauptbestandtheile des öffentlichen Gottesdienstes und brachen der deutschen Sprache unter dem Volke vollkommene Bahn, auf wel- cher noch die Streit- und Schmähschriften Luther's und seiner Anhänger tief vom Gelehrtenstande in das Volk hineindrangen und die Satire wie den derben Volkswitz zu einer sehr zu berück- sichtigenden Verbindung zwischen Gelehrten und Volk machten. Trotzdem verfiel nach Luther's Tode mit dem Rückschritt der gei-
1) "Chochemer Loschen. Wörterbuch der Gauner- und Diebs-, vulgo Jeni- schen Sprache" (Meißen 1833).
Train1) nicht etwa als kritiſche Hiſtoriker, ſondern alles Ernſtes als wirkliche Apologeten und Reſtauratoren des Galimatias auf- erſtanden ſind und beide die Gaunerſprache in ſchlimmſter Unkennt- niß ihres Weſens und ihrer hiſtoriſchen Entwickelung mit dieſem Galimatias verſetzt haben.
Um die ganze in der That merkwürdige Erſcheinung recht deutlich begreifen zu können, muß man einen Blick auf das Ende des Mittelalters zurückthun. Es iſt bereits Th. I, S. 117 fg. dar- auf hingewieſen worden, daß das ſchon im 14. Jahrhundert mit Begeiſterung getriebene Studium der altclaſſiſchen Literatur im 15. Jahrhundert in Deutſchland und den Niederlanden Eingang ge- funden und erweckend und erfriſchend auf das deutſche Volksleben und auf die Volkspoeſie gewirkt hatte. Die altclaſſiſche Bildung faßte beſonders durch Rudolf Agricola († 1485), Rudolf Lange († 1519), Konrad Celtes († 1508), Johann Reuchlin († 1522), Deſiderius Erasmus von Rotterdam († 1536) und Philipp Me- lanchthon († 1560) feſten Boden in Deutſchland, während die deutſche Sprache durch Sebaſtian Brant († 1522), Thomas Mur- ner († 1537), Johann Geiler von Kaiſersberg († 1510), Johann Turnmayr von Abensberg (Aventinus, † 1534) und beſonders Sebaſtian Franck († 1545) größere Cultur, durch Luther aber mit ſeiner wunderbar einfachen Kraft, Fülle, Gewandtheit und tiefen Gemüthlichkeit des Ausdrucks neue Geſtaltung und Norm erhielt und dadurch erſt zum eigenſten Neuhochdeutſch übergeführt wurde. Die deutſche Predigt und der deutſche Kirchengeſang wurden Hauptbeſtandtheile des öffentlichen Gottesdienſtes und brachen der deutſchen Sprache unter dem Volke vollkommene Bahn, auf wel- cher noch die Streit- und Schmähſchriften Luther’s und ſeiner Anhänger tief vom Gelehrtenſtande in das Volk hineindrangen und die Satire wie den derben Volkswitz zu einer ſehr zu berück- ſichtigenden Verbindung zwiſchen Gelehrten und Volk machten. Trotzdem verfiel nach Luther’s Tode mit dem Rückſchritt der gei-
1) „Chochemer Loſchen. Wörterbuch der Gauner- und Diebs-, vulgo Jeni- ſchen Sprache“ (Meißen 1833).
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erſtanden ſind und beide die Gaunerſprache in ſchlimmſter Unkennt-
niß ihres Weſens und ihrer hiſtoriſchen Entwickelung mit dieſem
Galimatias verſetzt haben.
Um die ganze in der That merkwürdige Erſcheinung recht
deutlich begreifen zu können, muß man einen Blick auf das Ende
des Mittelalters zurückthun. Es iſt bereits Th. I, S. 117 fg. dar-
auf hingewieſen worden, daß das ſchon im 14. Jahrhundert mit
Begeiſterung getriebene Studium der altclaſſiſchen Literatur im 15.
Jahrhundert in Deutſchland und den Niederlanden Eingang ge-
funden und erweckend und erfriſchend auf das deutſche Volksleben
und auf die Volkspoeſie gewirkt hatte. Die altclaſſiſche Bildung
faßte beſonders durch Rudolf Agricola († 1485), Rudolf Lange
(† 1519), Konrad Celtes († 1508), Johann Reuchlin († 1522),
Deſiderius Erasmus von Rotterdam († 1536) und Philipp Me-
lanchthon († 1560) feſten Boden in Deutſchland, während die
deutſche Sprache durch Sebaſtian Brant († 1522), Thomas Mur-
ner († 1537), Johann Geiler von Kaiſersberg († 1510), Johann
Turnmayr von Abensberg (Aventinus, † 1534) und beſonders
Sebaſtian Franck († 1545) größere Cultur, durch Luther aber mit
ſeiner wunderbar einfachen Kraft, Fülle, Gewandtheit und tiefen
Gemüthlichkeit des Ausdrucks neue Geſtaltung und Norm erhielt
und dadurch erſt zum eigenſten Neuhochdeutſch übergeführt wurde.
Die deutſche Predigt und der deutſche Kirchengeſang wurden
Hauptbeſtandtheile des öffentlichen Gottesdienſtes und brachen der
deutſchen Sprache unter dem Volke vollkommene Bahn, auf wel-
cher noch die Streit- und Schmähſchriften Luther’s und ſeiner
Anhänger tief vom Gelehrtenſtande in das Volk hineindrangen
und die Satire wie den derben Volkswitz zu einer ſehr zu berück-
ſichtigenden Verbindung zwiſchen Gelehrten und Volk machten.
Trotzdem verfiel nach Luther’s Tode mit dem Rückſchritt der gei-
1) „Chochemer Loſchen. Wörterbuch der Gauner- und Diebs-, vulgo Jeni-
ſchen Sprache“ (Meißen 1833).
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/207>, abgerufen am 24.11.2024.
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