handlung abzulenken, und darf deshalb nicht mit Thiele blos als Gedränge1) übersetzt werden, da das verabredete Gedränge nur eine der vielen secundären vertussenden Handlungen ist. Der Vertusser oder Vertussmacher hat, zur Unterstützung seines Kameraden, bei öffentlicher Gelegenheit einen Freier, das heißt die Person, die bestohlen werden soll, nach Verabredung, nach gemeinsamer Kunstregel und nach Ort und Gelegenheit so zu beschäftigen, daß des Freiers Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt und vom Diebe abgeleitet wird. So macht der Gauner Vertuss, wenn er vor einem Schauladen auffallende Bemerkungen macht, auf- sehenerregende Handlungen begeht, z. B. wie durch Zufall eine Fensterscheibe einstößt, damit, im Aufsehen auf ihn, sein Kamerad einem Nebenstehenden in die Tasche langen kann. Vertuss macht der Gauner, der den Freier an irgendeinem öffentlichen Ort wie einen alten Bekannten umarmt, hält und beschäftigt, während sein Kamerad jenem oder auch einem nahen andern die Uhr oder Dose nimmt; oder der Gauner, der sein Kind öffentlich mis- handelt und die Aufmerksamkeit auf sich und das Kind zieht; oder der mit Jemanden auf öffentlichem Wege Streit anfängt, oder epileptische Zufälle simulirt, den Betrunkenen spielt, als scharfer Reiter sein Pferd straft u. s. w., ohne daß jedoch gerade ein Ge- dränge dabei nothwendig wäre. Freilich wird oft versucht, ein Gedränge zu bewirken, namentlich bei Zusammenfluß einer größern Menschenmenge, was auf Jahrmärkten, im Theater und bei öffentlichen Versammlungen besonders der Fall ist, vorzüglich wenn kein specieller Vertuss verabredet ist, und der Dieb, der einen guten Freier in der Nähe hat, plötzlich den Zink zum Vertuss gibt. Bei dem Vertuss mit Gedränge fallen häufig arge Prügeleien vor, und der dienstgefällige Vertussmacher muß die alte silberne Spindel- uhr, die sein Kamerad dabei stiehlt, meist immer mit schmerzhaften Beulen und aufgelaufenem Gesichte bezahlen, wenn er nicht gar
1) Der Schrekener wird ja auch Vertusser genannt, und wird schwerlich in einem Gewölbe oder Laden Gelegenheit und nöthig haben, ein Gedränge zu machen. S. weiter unten "Das Schrekenen".
handlung abzulenken, und darf deshalb nicht mit Thiele blos als Gedränge1) überſetzt werden, da das verabredete Gedränge nur eine der vielen ſecundären vertuſſenden Handlungen iſt. Der Vertuſſer oder Vertuſſmacher hat, zur Unterſtützung ſeines Kameraden, bei öffentlicher Gelegenheit einen Freier, das heißt die Perſon, die beſtohlen werden ſoll, nach Verabredung, nach gemeinſamer Kunſtregel und nach Ort und Gelegenheit ſo zu beſchäftigen, daß des Freiers Aufmerkſamkeit auf ihn gelenkt und vom Diebe abgeleitet wird. So macht der Gauner Vertuſſ, wenn er vor einem Schauladen auffallende Bemerkungen macht, auf- ſehenerregende Handlungen begeht, z. B. wie durch Zufall eine Fenſterſcheibe einſtößt, damit, im Aufſehen auf ihn, ſein Kamerad einem Nebenſtehenden in die Taſche langen kann. Vertuſſ macht der Gauner, der den Freier an irgendeinem öffentlichen Ort wie einen alten Bekannten umarmt, hält und beſchäftigt, während ſein Kamerad jenem oder auch einem nahen andern die Uhr oder Doſe nimmt; oder der Gauner, der ſein Kind öffentlich mis- handelt und die Aufmerkſamkeit auf ſich und das Kind zieht; oder der mit Jemanden auf öffentlichem Wege Streit anfängt, oder epileptiſche Zufälle ſimulirt, den Betrunkenen ſpielt, als ſcharfer Reiter ſein Pferd ſtraft u. ſ. w., ohne daß jedoch gerade ein Ge- dränge dabei nothwendig wäre. Freilich wird oft verſucht, ein Gedränge zu bewirken, namentlich bei Zuſammenfluß einer größern Menſchenmenge, was auf Jahrmärkten, im Theater und bei öffentlichen Verſammlungen beſonders der Fall iſt, vorzüglich wenn kein ſpecieller Vertuſſ verabredet iſt, und der Dieb, der einen guten Freier in der Nähe hat, plötzlich den Zink zum Vertuſſ gibt. Bei dem Vertuſſ mit Gedränge fallen häufig arge Prügeleien vor, und der dienſtgefällige Vertuſſmacher muß die alte ſilberne Spindel- uhr, die ſein Kamerad dabei ſtiehlt, meiſt immer mit ſchmerzhaften Beulen und aufgelaufenem Geſichte bezahlen, wenn er nicht gar
1) Der Schrekener wird ja auch Vertuſſer genannt, und wird ſchwerlich in einem Gewölbe oder Laden Gelegenheit und nöthig haben, ein Gedränge zu machen. S. weiter unten „Das Schrekenen“.
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handlung abzulenken, und darf deshalb nicht mit Thiele blos als
Gedränge 1) überſetzt werden, da das verabredete Gedränge nur
eine der vielen ſecundären vertuſſenden Handlungen iſt. Der
Vertuſſer oder Vertuſſmacher hat, zur Unterſtützung ſeines
Kameraden, bei öffentlicher Gelegenheit einen Freier, das heißt
die Perſon, die beſtohlen werden ſoll, nach Verabredung, nach
gemeinſamer Kunſtregel und nach Ort und Gelegenheit ſo zu
beſchäftigen, daß des Freiers Aufmerkſamkeit auf ihn gelenkt und
vom Diebe abgeleitet wird. So macht der Gauner Vertuſſ, wenn
er vor einem Schauladen auffallende Bemerkungen macht, auf-
ſehenerregende Handlungen begeht, z. B. wie durch Zufall eine
Fenſterſcheibe einſtößt, damit, im Aufſehen auf ihn, ſein Kamerad
einem Nebenſtehenden in die Taſche langen kann. Vertuſſ macht
der Gauner, der den Freier an irgendeinem öffentlichen Ort wie
einen alten Bekannten umarmt, hält und beſchäftigt, während
ſein Kamerad jenem oder auch einem nahen andern die Uhr oder
Doſe nimmt; oder der Gauner, der ſein Kind öffentlich mis-
handelt und die Aufmerkſamkeit auf ſich und das Kind zieht; oder
der mit Jemanden auf öffentlichem Wege Streit anfängt, oder
epileptiſche Zufälle ſimulirt, den Betrunkenen ſpielt, als ſcharfer
Reiter ſein Pferd ſtraft u. ſ. w., ohne daß jedoch gerade ein Ge-
dränge dabei nothwendig wäre. Freilich wird oft verſucht, ein
Gedränge zu bewirken, namentlich bei Zuſammenfluß einer größern
Menſchenmenge, was auf Jahrmärkten, im Theater und bei
öffentlichen Verſammlungen beſonders der Fall iſt, vorzüglich wenn
kein ſpecieller Vertuſſ verabredet iſt, und der Dieb, der einen guten
Freier in der Nähe hat, plötzlich den Zink zum Vertuſſ gibt. Bei
dem Vertuſſ mit Gedränge fallen häufig arge Prügeleien vor, und
der dienſtgefällige Vertuſſmacher muß die alte ſilberne Spindel-
uhr, die ſein Kamerad dabei ſtiehlt, meiſt immer mit ſchmerzhaften
Beulen und aufgelaufenem Geſichte bezahlen, wenn er nicht gar
1) Der Schrekener wird ja auch Vertuſſer genannt, und wird ſchwerlich
in einem Gewölbe oder Laden Gelegenheit und nöthig haben, ein Gedränge
zu machen. S. weiter unten „Das Schrekenen“.
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/86>, abgerufen am 27.11.2024.
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