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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Lebensanschauung durch eine Flut von Cultusformen, durch die
starken Fesseln eines geistlosen Mechanismus unterdrückte und zu
finsterm Aberglauben überführte, verschwand auch der gesunde,
unbefangene, richterliche Blick auf das Verbrecherleben, während
doch gerade zu gleicher Zeit die Kunst des Gaunerthums von
einzelnen schärfer blickenden Köpfen deutlicher wahrgenommen und
durch Sebastian Brant und den Liber Vagatorum offen dargelegt
wurde. Die Gauneruntersuchungen gingen gänzlich in die Hexen-
processe auf und unter. Mag man Hunderte von Hexenprocessen
lesen, so findet man doch in allen dieselbe stereotype dürre Pro-
cedur, dieselben stehenden Fragen und, vermöge des kaustischen Ue-
berführungsmittels der Tortur, dasselbe Geständniß, den Pact mit
dem Teufel, während in jedem Proceß die zum Grunde liegende
That doch eine ganz verschiedene ist, von der unschuldigsten Spie-
lerei, Gefälligkeit und Selbsttäuschung an bis zum raffinirten Be-
truge. 1) Bei dieser bornirten zelotischen Einseitigkeit begriff das
behende Gaunerthum sehr leicht, wo und wie es sich von der
Justiz ferne zu halten hatte, welche sich stets nur in demselben
mechanischen Fragencyklus bewegte, und mit der Tortur überführte,
bis der freier und frischer gewordene Volksblick wiederum das
Gaunerthum deutlicher zu begreifen begann, und seine Kunst und
Erfolge in den vielen Anekdotensammlungen und Schelmenromanen
des 17. Jahrhunderts darlegte. Durch diese vom Volke aus-

1) Von der unglaublichen Befangenheit aller Vernunft und Menschlich-
keit geben besonders Johann Reiche's "Acta magica" (Anhang zu den "Un-
terschiedlichen Schrifften Vom Unfug des Hexen-Processes", Magdeburg 1703)
eine Menge trüber Zeugnisse. Noch 1694 wurde "wegen Mausemachens" ein
Hexenproceß gegen die zehnjährige Ahlheit Ahlers angestellt, weil sie in der
Schule aus ihrem Schnupftuche eine mausähnliche Figur zusammengeknotet
hatte. Acta magica, S. 585 fg. Jn dem Processe spricht (S. 609) der
Fiscal aus, daß das zehnjährige Alter des Kindes dasselbe weder vor der Jn-
quisition noch vor der Tortur schütze, "da auch wider Kinder von zwei
Jahren,
welche der Zauberei beschuldigt werden, inquirirt werden könne und
müsse". Auch bezieht er sich auf "Manzii decis" 82, n. 27, 28 u. 29, wo-
nach "ein zwölfjähriger Knabe wegen Zauberei mit dem Schwerte abge-
straft worden" u. s. w.

Lebensanſchauung durch eine Flut von Cultusformen, durch die
ſtarken Feſſeln eines geiſtloſen Mechanismus unterdrückte und zu
finſterm Aberglauben überführte, verſchwand auch der geſunde,
unbefangene, richterliche Blick auf das Verbrecherleben, während
doch gerade zu gleicher Zeit die Kunſt des Gaunerthums von
einzelnen ſchärfer blickenden Köpfen deutlicher wahrgenommen und
durch Sebaſtian Brant und den Liber Vagatorum offen dargelegt
wurde. Die Gaunerunterſuchungen gingen gänzlich in die Hexen-
proceſſe auf und unter. Mag man Hunderte von Hexenproceſſen
leſen, ſo findet man doch in allen dieſelbe ſtereotype dürre Pro-
cedur, dieſelben ſtehenden Fragen und, vermöge des kauſtiſchen Ue-
berführungsmittels der Tortur, daſſelbe Geſtändniß, den Pact mit
dem Teufel, während in jedem Proceß die zum Grunde liegende
That doch eine ganz verſchiedene iſt, von der unſchuldigſten Spie-
lerei, Gefälligkeit und Selbſttäuſchung an bis zum raffinirten Be-
truge. 1) Bei dieſer bornirten zelotiſchen Einſeitigkeit begriff das
behende Gaunerthum ſehr leicht, wo und wie es ſich von der
Juſtiz ferne zu halten hatte, welche ſich ſtets nur in demſelben
mechaniſchen Fragencyklus bewegte, und mit der Tortur überführte,
bis der freier und friſcher gewordene Volksblick wiederum das
Gaunerthum deutlicher zu begreifen begann, und ſeine Kunſt und
Erfolge in den vielen Anekdotenſammlungen und Schelmenromanen
des 17. Jahrhunderts darlegte. Durch dieſe vom Volke aus-

1) Von der unglaublichen Befangenheit aller Vernunft und Menſchlich-
keit geben beſonders Johann Reiche’s „Acta magica“ (Anhang zu den „Un-
terſchiedlichen Schrifften Vom Unfug des Hexen-Proceſſes“, Magdeburg 1703)
eine Menge trüber Zeugniſſe. Noch 1694 wurde „wegen Mauſemachens“ ein
Hexenproceß gegen die zehnjährige Ahlheit Ahlers angeſtellt, weil ſie in der
Schule aus ihrem Schnupftuche eine mausähnliche Figur zuſammengeknotet
hatte. Acta magica, S. 585 fg. Jn dem Proceſſe ſpricht (S. 609) der
Fiscal aus, daß das zehnjährige Alter des Kindes daſſelbe weder vor der Jn-
quiſition noch vor der Tortur ſchütze, „da auch wider Kinder von zwei
Jahren,
welche der Zauberei beſchuldigt werden, inquirirt werden könne und
müſſe“. Auch bezieht er ſich auf „Manzii decis“ 82, n. 27, 28 u. 29, wo-
nach „ein zwölfjähriger Knabe wegen Zauberei mit dem Schwerte abge-
ſtraft worden“ u. ſ. w.
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[375/0387] Lebensanſchauung durch eine Flut von Cultusformen, durch die ſtarken Feſſeln eines geiſtloſen Mechanismus unterdrückte und zu finſterm Aberglauben überführte, verſchwand auch der geſunde, unbefangene, richterliche Blick auf das Verbrecherleben, während doch gerade zu gleicher Zeit die Kunſt des Gaunerthums von einzelnen ſchärfer blickenden Köpfen deutlicher wahrgenommen und durch Sebaſtian Brant und den Liber Vagatorum offen dargelegt wurde. Die Gaunerunterſuchungen gingen gänzlich in die Hexen- proceſſe auf und unter. Mag man Hunderte von Hexenproceſſen leſen, ſo findet man doch in allen dieſelbe ſtereotype dürre Pro- cedur, dieſelben ſtehenden Fragen und, vermöge des kauſtiſchen Ue- berführungsmittels der Tortur, daſſelbe Geſtändniß, den Pact mit dem Teufel, während in jedem Proceß die zum Grunde liegende That doch eine ganz verſchiedene iſt, von der unſchuldigſten Spie- lerei, Gefälligkeit und Selbſttäuſchung an bis zum raffinirten Be- truge. 1) Bei dieſer bornirten zelotiſchen Einſeitigkeit begriff das behende Gaunerthum ſehr leicht, wo und wie es ſich von der Juſtiz ferne zu halten hatte, welche ſich ſtets nur in demſelben mechaniſchen Fragencyklus bewegte, und mit der Tortur überführte, bis der freier und friſcher gewordene Volksblick wiederum das Gaunerthum deutlicher zu begreifen begann, und ſeine Kunſt und Erfolge in den vielen Anekdotenſammlungen und Schelmenromanen des 17. Jahrhunderts darlegte. Durch dieſe vom Volke aus- 1) Von der unglaublichen Befangenheit aller Vernunft und Menſchlich- keit geben beſonders Johann Reiche’s „Acta magica“ (Anhang zu den „Un- terſchiedlichen Schrifften Vom Unfug des Hexen-Proceſſes“, Magdeburg 1703) eine Menge trüber Zeugniſſe. Noch 1694 wurde „wegen Mauſemachens“ ein Hexenproceß gegen die zehnjährige Ahlheit Ahlers angeſtellt, weil ſie in der Schule aus ihrem Schnupftuche eine mausähnliche Figur zuſammengeknotet hatte. Acta magica, S. 585 fg. Jn dem Proceſſe ſpricht (S. 609) der Fiscal aus, daß das zehnjährige Alter des Kindes daſſelbe weder vor der Jn- quiſition noch vor der Tortur ſchütze, „da auch wider Kinder von zwei Jahren, welche der Zauberei beſchuldigt werden, inquirirt werden könne und müſſe“. Auch bezieht er ſich auf „Manzii decis“ 82, n. 27, 28 u. 29, wo- nach „ein zwölfjähriger Knabe wegen Zauberei mit dem Schwerte abge- ſtraft worden“ u. ſ. w.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/387>, abgerufen am 22.11.2024.