Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite
D. Die Paralyse des Gaunerthums.
Einundneunzigstes Kapitel.
1) Die französisch-deutsche Polizei.

Somit erblickt man das Gaunerthum als ein am siechenden
Körper des Bürgerthums haftendes Uebel, welches seine Wurzeln
tief in die offenen Wunden geschlagen hat, und den ganzen Kör-
per zu entkräften droht, wenn nicht die heilende Hand des Arztes
bald hinzutritt und das Uebel gründlich zu heilen anfängt. Je
inveterirter das Uebel ist, desto intensiver und gefährlicher ist es
selbst, und wiederum desto hinfälliger und empfindlicher ist der
siechende Körper geworden, welcher die von wohlmeinender, leider
aber oft ungeschickter Hand geführte schmerzhafte Sonde schon
nicht mehr dulden mag. Die Abneigung des Bürgerthums gegen
die heutige Polizei ist zu entschieden ausgesprochen, als daß sie
abgeleugnet oder ignorirt werden könnte. Je mehr aber das
deutsche Bürgerthum, trotz so vieler und harter Prüfungen, die
alte kräftige deutsche Volksnatur in sich bewahrt hat, je würdiger
und bedürftiger des Schutzes gegen das an seinem innern Marke
zehrende gewerbliche Verbrechen dieses deutsche Bürgerthum ist, und
je mehr dagegen die Polizei des 19. Jahrhunderts in Rückstand
gerathen ist, desto weniger darf man es abweisen, einen kurzen
Blick auf die Ursachen zurückzuthun, welche der Entwickelung einer,
dem deutschen Wesen entsprechenden Polizei im Wege standen, und
die auffallende Erscheinung motiviren, daß gleichzeitig mit der neu-
begonnenen tiefern philosophischen Behandlung des deutschen
Strafrechts zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein fremdartiges
Polizeisystem in Deutschland aufzukommen versuchen konnte, wel-
ches dem deutschen Wesen durchaus abhold ist und niemals mit
demselben sich verständigen wird. Diese Ursachen liegen schon in
den Bewegungen des mittelalterlichen Lehnstaats, welche eine
reiche Belehrung geben, und die Verschiedenartigkeit und den

D. Die Paralyſe des Gaunerthums.
Einundneunzigſtes Kapitel.
1) Die franzöſiſch-deutſche Polizei.

Somit erblickt man das Gaunerthum als ein am ſiechenden
Körper des Bürgerthums haftendes Uebel, welches ſeine Wurzeln
tief in die offenen Wunden geſchlagen hat, und den ganzen Kör-
per zu entkräften droht, wenn nicht die heilende Hand des Arztes
bald hinzutritt und das Uebel gründlich zu heilen anfängt. Je
inveterirter das Uebel iſt, deſto intenſiver und gefährlicher iſt es
ſelbſt, und wiederum deſto hinfälliger und empfindlicher iſt der
ſiechende Körper geworden, welcher die von wohlmeinender, leider
aber oft ungeſchickter Hand geführte ſchmerzhafte Sonde ſchon
nicht mehr dulden mag. Die Abneigung des Bürgerthums gegen
die heutige Polizei iſt zu entſchieden ausgeſprochen, als daß ſie
abgeleugnet oder ignorirt werden könnte. Je mehr aber das
deutſche Bürgerthum, trotz ſo vieler und harter Prüfungen, die
alte kräftige deutſche Volksnatur in ſich bewahrt hat, je würdiger
und bedürftiger des Schutzes gegen das an ſeinem innern Marke
zehrende gewerbliche Verbrechen dieſes deutſche Bürgerthum iſt, und
je mehr dagegen die Polizei des 19. Jahrhunderts in Rückſtand
gerathen iſt, deſto weniger darf man es abweiſen, einen kurzen
Blick auf die Urſachen zurückzuthun, welche der Entwickelung einer,
dem deutſchen Weſen entſprechenden Polizei im Wege ſtanden, und
die auffallende Erſcheinung motiviren, daß gleichzeitig mit der neu-
begonnenen tiefern philoſophiſchen Behandlung des deutſchen
Strafrechts zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein fremdartiges
Polizeiſyſtem in Deutſchland aufzukommen verſuchen konnte, wel-
ches dem deutſchen Weſen durchaus abhold iſt und niemals mit
demſelben ſich verſtändigen wird. Dieſe Urſachen liegen ſchon in
den Bewegungen des mittelalterlichen Lehnſtaats, welche eine
reiche Belehrung geben, und die Verſchiedenartigkeit und den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0353" n="341"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">D.</hi> Die Paraly&#x017F;e des Gaunerthums.</hi> </head><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#fr">Einundneunzig&#x017F;tes Kapitel.</hi><lb/> <hi rendition="#b">1) Die franzö&#x017F;i&#x017F;ch-deut&#x017F;che Polizei.</hi> </head><lb/>
            <p>Somit erblickt man das Gaunerthum als ein am &#x017F;iechenden<lb/>
Körper des Bürgerthums haftendes Uebel, welches &#x017F;eine Wurzeln<lb/>
tief in die offenen Wunden ge&#x017F;chlagen hat, und den ganzen Kör-<lb/>
per zu entkräften droht, wenn nicht die heilende Hand des Arztes<lb/>
bald hinzutritt und das Uebel gründlich zu heilen anfängt. Je<lb/>
inveterirter das Uebel i&#x017F;t, de&#x017F;to inten&#x017F;iver und gefährlicher i&#x017F;t es<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, und wiederum de&#x017F;to hinfälliger und empfindlicher i&#x017F;t der<lb/>
&#x017F;iechende Körper geworden, welcher die von wohlmeinender, leider<lb/>
aber oft unge&#x017F;chickter Hand geführte &#x017F;chmerzhafte Sonde &#x017F;chon<lb/>
nicht mehr dulden mag. Die Abneigung des Bürgerthums gegen<lb/>
die heutige Polizei i&#x017F;t zu ent&#x017F;chieden ausge&#x017F;prochen, als daß &#x017F;ie<lb/>
abgeleugnet oder ignorirt werden könnte. Je mehr aber das<lb/>
deut&#x017F;che Bürgerthum, trotz &#x017F;o vieler und harter Prüfungen, die<lb/>
alte kräftige deut&#x017F;che Volksnatur in &#x017F;ich bewahrt hat, je würdiger<lb/>
und bedürftiger des Schutzes gegen das an &#x017F;einem innern Marke<lb/>
zehrende gewerbliche Verbrechen die&#x017F;es deut&#x017F;che Bürgerthum i&#x017F;t, und<lb/>
je mehr dagegen die Polizei des 19. Jahrhunderts in Rück&#x017F;tand<lb/>
gerathen i&#x017F;t, de&#x017F;to weniger darf man es abwei&#x017F;en, einen kurzen<lb/>
Blick auf die Ur&#x017F;achen zurückzuthun, welche der Entwickelung einer,<lb/>
dem deut&#x017F;chen We&#x017F;en ent&#x017F;prechenden Polizei im Wege &#x017F;tanden, und<lb/>
die auffallende Er&#x017F;cheinung motiviren, daß gleichzeitig mit der neu-<lb/>
begonnenen tiefern philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Behandlung des deut&#x017F;chen<lb/>
Strafrechts zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein fremdartiges<lb/>
Polizei&#x017F;y&#x017F;tem in Deut&#x017F;chland aufzukommen ver&#x017F;uchen konnte, wel-<lb/>
ches dem deut&#x017F;chen We&#x017F;en durchaus abhold i&#x017F;t und niemals mit<lb/>
dem&#x017F;elben &#x017F;ich ver&#x017F;tändigen wird. Die&#x017F;e Ur&#x017F;achen liegen &#x017F;chon in<lb/>
den Bewegungen des mittelalterlichen Lehn&#x017F;taats, welche eine<lb/>
reiche Belehrung geben, und die Ver&#x017F;chiedenartigkeit und den<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[341/0353] D. Die Paralyſe des Gaunerthums. Einundneunzigſtes Kapitel. 1) Die franzöſiſch-deutſche Polizei. Somit erblickt man das Gaunerthum als ein am ſiechenden Körper des Bürgerthums haftendes Uebel, welches ſeine Wurzeln tief in die offenen Wunden geſchlagen hat, und den ganzen Kör- per zu entkräften droht, wenn nicht die heilende Hand des Arztes bald hinzutritt und das Uebel gründlich zu heilen anfängt. Je inveterirter das Uebel iſt, deſto intenſiver und gefährlicher iſt es ſelbſt, und wiederum deſto hinfälliger und empfindlicher iſt der ſiechende Körper geworden, welcher die von wohlmeinender, leider aber oft ungeſchickter Hand geführte ſchmerzhafte Sonde ſchon nicht mehr dulden mag. Die Abneigung des Bürgerthums gegen die heutige Polizei iſt zu entſchieden ausgeſprochen, als daß ſie abgeleugnet oder ignorirt werden könnte. Je mehr aber das deutſche Bürgerthum, trotz ſo vieler und harter Prüfungen, die alte kräftige deutſche Volksnatur in ſich bewahrt hat, je würdiger und bedürftiger des Schutzes gegen das an ſeinem innern Marke zehrende gewerbliche Verbrechen dieſes deutſche Bürgerthum iſt, und je mehr dagegen die Polizei des 19. Jahrhunderts in Rückſtand gerathen iſt, deſto weniger darf man es abweiſen, einen kurzen Blick auf die Urſachen zurückzuthun, welche der Entwickelung einer, dem deutſchen Weſen entſprechenden Polizei im Wege ſtanden, und die auffallende Erſcheinung motiviren, daß gleichzeitig mit der neu- begonnenen tiefern philoſophiſchen Behandlung des deutſchen Strafrechts zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein fremdartiges Polizeiſyſtem in Deutſchland aufzukommen verſuchen konnte, wel- ches dem deutſchen Weſen durchaus abhold iſt und niemals mit demſelben ſich verſtändigen wird. Dieſe Urſachen liegen ſchon in den Bewegungen des mittelalterlichen Lehnſtaats, welche eine reiche Belehrung geben, und die Verſchiedenartigkeit und den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/353
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/353>, abgerufen am 22.11.2024.