Allerdings findet man unter den Gaunern entschieden jüdische und zigeunerische Gesichtsbildungen. Diese sind jedoch nur zufäl- lige nationale Typen und keineswegs dem Gaunerthum eigenthüm- lich. Der Gauner ist und bleibt für den Ethnographen verloren. Seine Erscheinung geht nicht über den gewöhnlichen Alltagsmen- schen hinaus, wie ihn die Natur geschaffen hat, mag auch viel- leicht Krankheit, Leidenschaft und Sünde seine Erscheinung mis- gestaltet haben. Daher kommt die Verwegenheit, mit welcher das Gaunerthum sich alle Formen des social-politischen Lebens anzu- eignen und in ihnen sich zu bewegen versucht, und die Schwie- rigkeit, den Gauner unter diesen Formen zu entdecken. Nur eine ganz genaue Kenntniß der vielfachen und verschiedenen Formen und feinen Nüancirungen jenes Lebens kann daher allein den Polizeimann in Stand setzen, den Gauner in den verschiedensten Erscheinungen zu entlarven.
Eine Statistik des Gaunerthums nach Personenzahl, Anzahl der Verbrechen, Höhe des angerichteten Schadens u. s. w. läßt sich bei dem schlüpfend beweglichen Wechsel des Gaunerthums nicht mit Sicherheit geben. Sie ist aber so erschreckend hoch, daß man sich scheuen muß, auch nur in annähernder Weise Zahlen anzugeben. Nach ungefährer Berechnung ergibt sich, daß seit den Hugenottenkriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mit Ausschluß der frei umherziehenden Zigeunerhorden, weit über eine Million professionirter Gauner in Deutschland existirt und ihren wesentlichen Unterhalt von Raub und Diebstahl gezogen hat. Diese enorme Summe frappirt nicht, wenn man die Zahl und Aufklärungen der zur Untersuchung gezogenen Gauner in diesem Zeitraume berücksichtigt und auf die ungeheuern Räuber- horden des Dreißigjährigen Kriegs sieht, deren offene Verjüngung und Verzweigung zu weitern Räuberbanden von Generation zu Generation erst vor noch nicht einmal 40 Jahren abgeschnitten ist. So überrascht es auch nicht, wenn Schäffer im Jahre 1793 in dem kleinen Schwaben, dem zehnten Theile Deutschlands, minde- stens 2726 professionirte Gauner nachweist, Schwencken im Jahre 1820 noch 650 jüdische und 1189 christliche Gauner signalisirt,
Allerdings findet man unter den Gaunern entſchieden jüdiſche und zigeuneriſche Geſichtsbildungen. Dieſe ſind jedoch nur zufäl- lige nationale Typen und keineswegs dem Gaunerthum eigenthüm- lich. Der Gauner iſt und bleibt für den Ethnographen verloren. Seine Erſcheinung geht nicht über den gewöhnlichen Alltagsmen- ſchen hinaus, wie ihn die Natur geſchaffen hat, mag auch viel- leicht Krankheit, Leidenſchaft und Sünde ſeine Erſcheinung mis- geſtaltet haben. Daher kommt die Verwegenheit, mit welcher das Gaunerthum ſich alle Formen des ſocial-politiſchen Lebens anzu- eignen und in ihnen ſich zu bewegen verſucht, und die Schwie- rigkeit, den Gauner unter dieſen Formen zu entdecken. Nur eine ganz genaue Kenntniß der vielfachen und verſchiedenen Formen und feinen Nüancirungen jenes Lebens kann daher allein den Polizeimann in Stand ſetzen, den Gauner in den verſchiedenſten Erſcheinungen zu entlarven.
Eine Statiſtik des Gaunerthums nach Perſonenzahl, Anzahl der Verbrechen, Höhe des angerichteten Schadens u. ſ. w. läßt ſich bei dem ſchlüpfend beweglichen Wechſel des Gaunerthums nicht mit Sicherheit geben. Sie iſt aber ſo erſchreckend hoch, daß man ſich ſcheuen muß, auch nur in annähernder Weiſe Zahlen anzugeben. Nach ungefährer Berechnung ergibt ſich, daß ſeit den Hugenottenkriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mit Ausſchluß der frei umherziehenden Zigeunerhorden, weit über eine Million profeſſionirter Gauner in Deutſchland exiſtirt und ihren weſentlichen Unterhalt von Raub und Diebſtahl gezogen hat. Dieſe enorme Summe frappirt nicht, wenn man die Zahl und Aufklärungen der zur Unterſuchung gezogenen Gauner in dieſem Zeitraume berückſichtigt und auf die ungeheuern Räuber- horden des Dreißigjährigen Kriegs ſieht, deren offene Verjüngung und Verzweigung zu weitern Räuberbanden von Generation zu Generation erſt vor noch nicht einmal 40 Jahren abgeſchnitten iſt. So überraſcht es auch nicht, wenn Schäffer im Jahre 1793 in dem kleinen Schwaben, dem zehnten Theile Deutſchlands, minde- ſtens 2726 profeſſionirte Gauner nachweiſt, Schwencken im Jahre 1820 noch 650 jüdiſche und 1189 chriſtliche Gauner ſignaliſirt,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0017"n="5"/><p>Allerdings findet man unter den Gaunern entſchieden jüdiſche<lb/>
und zigeuneriſche Geſichtsbildungen. Dieſe ſind jedoch nur zufäl-<lb/>
lige nationale Typen und keineswegs dem Gaunerthum eigenthüm-<lb/>
lich. Der Gauner iſt und bleibt für den Ethnographen verloren.<lb/>
Seine Erſcheinung geht nicht über den gewöhnlichen Alltagsmen-<lb/>ſchen hinaus, wie ihn die Natur geſchaffen hat, mag auch viel-<lb/>
leicht Krankheit, Leidenſchaft und Sünde ſeine Erſcheinung mis-<lb/>
geſtaltet haben. Daher kommt die Verwegenheit, mit welcher das<lb/>
Gaunerthum ſich alle Formen des ſocial-politiſchen Lebens anzu-<lb/>
eignen und in ihnen ſich zu bewegen verſucht, und die Schwie-<lb/>
rigkeit, den Gauner unter dieſen Formen zu entdecken. Nur eine<lb/>
ganz genaue Kenntniß der vielfachen und verſchiedenen Formen<lb/>
und feinen Nüancirungen jenes Lebens kann daher allein den<lb/>
Polizeimann in Stand ſetzen, den Gauner in den verſchiedenſten<lb/>
Erſcheinungen zu entlarven.</p><lb/><p>Eine <hirendition="#g">Statiſtik</hi> des Gaunerthums nach Perſonenzahl, Anzahl<lb/>
der Verbrechen, Höhe des angerichteten Schadens u. ſ. w. läßt<lb/>ſich bei dem ſchlüpfend beweglichen Wechſel des Gaunerthums<lb/>
nicht mit Sicherheit geben. Sie iſt aber ſo erſchreckend hoch, daß<lb/>
man ſich ſcheuen muß, auch nur in annähernder Weiſe Zahlen<lb/>
anzugeben. Nach ungefährer Berechnung ergibt ſich, daß ſeit den<lb/>
Hugenottenkriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mit<lb/>
Ausſchluß der frei umherziehenden Zigeunerhorden, weit über<lb/>
eine Million profeſſionirter Gauner in Deutſchland exiſtirt und<lb/>
ihren weſentlichen Unterhalt von Raub und Diebſtahl gezogen<lb/>
hat. Dieſe enorme Summe frappirt nicht, wenn man die<lb/>
Zahl und Aufklärungen der zur Unterſuchung gezogenen Gauner<lb/>
in dieſem Zeitraume berückſichtigt und auf die ungeheuern Räuber-<lb/>
horden des Dreißigjährigen Kriegs ſieht, deren offene Verjüngung<lb/>
und Verzweigung zu weitern Räuberbanden von Generation zu<lb/>
Generation erſt vor noch nicht einmal 40 Jahren abgeſchnitten<lb/>
iſt. So überraſcht es auch nicht, wenn Schäffer im Jahre 1793 in<lb/>
dem kleinen Schwaben, dem zehnten Theile Deutſchlands, minde-<lb/>ſtens 2726 profeſſionirte Gauner nachweiſt, Schwencken im Jahre<lb/>
1820 noch 650 jüdiſche und 1189 chriſtliche Gauner ſignaliſirt,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[5/0017]
Allerdings findet man unter den Gaunern entſchieden jüdiſche
und zigeuneriſche Geſichtsbildungen. Dieſe ſind jedoch nur zufäl-
lige nationale Typen und keineswegs dem Gaunerthum eigenthüm-
lich. Der Gauner iſt und bleibt für den Ethnographen verloren.
Seine Erſcheinung geht nicht über den gewöhnlichen Alltagsmen-
ſchen hinaus, wie ihn die Natur geſchaffen hat, mag auch viel-
leicht Krankheit, Leidenſchaft und Sünde ſeine Erſcheinung mis-
geſtaltet haben. Daher kommt die Verwegenheit, mit welcher das
Gaunerthum ſich alle Formen des ſocial-politiſchen Lebens anzu-
eignen und in ihnen ſich zu bewegen verſucht, und die Schwie-
rigkeit, den Gauner unter dieſen Formen zu entdecken. Nur eine
ganz genaue Kenntniß der vielfachen und verſchiedenen Formen
und feinen Nüancirungen jenes Lebens kann daher allein den
Polizeimann in Stand ſetzen, den Gauner in den verſchiedenſten
Erſcheinungen zu entlarven.
Eine Statiſtik des Gaunerthums nach Perſonenzahl, Anzahl
der Verbrechen, Höhe des angerichteten Schadens u. ſ. w. läßt
ſich bei dem ſchlüpfend beweglichen Wechſel des Gaunerthums
nicht mit Sicherheit geben. Sie iſt aber ſo erſchreckend hoch, daß
man ſich ſcheuen muß, auch nur in annähernder Weiſe Zahlen
anzugeben. Nach ungefährer Berechnung ergibt ſich, daß ſeit den
Hugenottenkriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, mit
Ausſchluß der frei umherziehenden Zigeunerhorden, weit über
eine Million profeſſionirter Gauner in Deutſchland exiſtirt und
ihren weſentlichen Unterhalt von Raub und Diebſtahl gezogen
hat. Dieſe enorme Summe frappirt nicht, wenn man die
Zahl und Aufklärungen der zur Unterſuchung gezogenen Gauner
in dieſem Zeitraume berückſichtigt und auf die ungeheuern Räuber-
horden des Dreißigjährigen Kriegs ſieht, deren offene Verjüngung
und Verzweigung zu weitern Räuberbanden von Generation zu
Generation erſt vor noch nicht einmal 40 Jahren abgeſchnitten
iſt. So überraſcht es auch nicht, wenn Schäffer im Jahre 1793 in
dem kleinen Schwaben, dem zehnten Theile Deutſchlands, minde-
ſtens 2726 profeſſionirte Gauner nachweiſt, Schwencken im Jahre
1820 noch 650 jüdiſche und 1189 chriſtliche Gauner ſignaliſirt,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/17>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.