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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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Gaunern Besuche im Gefängnisse abstatteten und ihnen reiche
Spenden zuwandten, oder sich mit der auffälligsten Manifestation
unwerther Theilnahme in Menge an ihren Todesweg oder um
das Schaffot drängten: der gemeine Dieb und Mörder ward
aber doch als der Held eines unglücklichen Romans betrachtet
und sein Verbrechen zur gefeierten Heldenthat erhoben, sodaß bei
jener schon lange begonnenen trübseligen Nachahmungssucht der
Deutschen, in der das Gute vom Schlechten nicht immer gehörig
erkannt und gesondert wurde, jene eigenthümlichen, den in Spanien
zuerst aufgekommenen picarischen Romanen 1) nachgeahmten Schel-
menromane 2) aufkommen konnten, welche die beliebteste Lectüre
ihrer Zeit bildeten, lange Zeit vorhielten und trotz des strengen
Ernstes, tiefer Sinnigkeit und rügender Satire einem Johann Bal-
thasar Schuppe, Hans Michael Moscherosch u. A. vielfachen Stoff
zu ihren schätzbaren Schriften lieferten, und als die Hauptquellen
der Flut von Anekdotensammlungen jener Zeit gelten müssen.
So erscheint es zweifelhaft, ob der materielle Schade, den das
Gaunerthum anrichtete, größer war, oder der sittliche Schade, der
dadurch entstand, daß eine falsche Sentimentalität aus gemeinen
Verbrechern ritterliche Kämpen schuf, an denen nicht allein die
schöne mittelalterliche Romantik, sondern auch das wahre Gefühl
für Recht, Zucht und Sitte verloren ging.

Mit dem 18. Jahrhundert beginnt ein furchtbar blu-
tiger Kampf der sich allmählich aufraffenden Polizei und der

1) Vgl. z. B. Francisco de Quevedo Villegas, "Geschichte und Leben
des Erzschelmes genannt Don Paul", in der trefflichen neuern Uebersetzung
von J. G. Keil (Leipzig, Brockhaus 1826).
2) Unter denen die 1669 erschienenen "Abentheur des Simplicius
Simplicissimus" obenan stehen, in denen mit Lebendigkeit, Laune und Witz
die Begebenheiten eines Abenteurers in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs
geschildert werden. Diese Schelmenromane erscheinen als Sittenschilderungen
sehr wichtig, obschon sie in Anlage und Durchführung lediglich dichterische
Compositionen sind. Für den Polizeimann ist noch besonders lehrreich: Nico-
laus Ulenhart, "Sonderlich-Curieuse Historia von Jsaac Winckelfeldter und
Jobst von der Schneidt: Wie es diesen Beyden Gesellen in der Welt-
berühmten Stadt Prag Ergangen" (neue Auflage 1724).

Gaunern Beſuche im Gefängniſſe abſtatteten und ihnen reiche
Spenden zuwandten, oder ſich mit der auffälligſten Manifeſtation
unwerther Theilnahme in Menge an ihren Todesweg oder um
das Schaffot drängten: der gemeine Dieb und Mörder ward
aber doch als der Held eines unglücklichen Romans betrachtet
und ſein Verbrechen zur gefeierten Heldenthat erhoben, ſodaß bei
jener ſchon lange begonnenen trübſeligen Nachahmungsſucht der
Deutſchen, in der das Gute vom Schlechten nicht immer gehörig
erkannt und geſondert wurde, jene eigenthümlichen, den in Spanien
zuerſt aufgekommenen picariſchen Romanen 1) nachgeahmten Schel-
menromane 2) aufkommen konnten, welche die beliebteſte Lectüre
ihrer Zeit bildeten, lange Zeit vorhielten und trotz des ſtrengen
Ernſtes, tiefer Sinnigkeit und rügender Satire einem Johann Bal-
thaſar Schuppe, Hans Michael Moſcheroſch u. A. vielfachen Stoff
zu ihren ſchätzbaren Schriften lieferten, und als die Hauptquellen
der Flut von Anekdotenſammlungen jener Zeit gelten müſſen.
So erſcheint es zweifelhaft, ob der materielle Schade, den das
Gaunerthum anrichtete, größer war, oder der ſittliche Schade, der
dadurch entſtand, daß eine falſche Sentimentalität aus gemeinen
Verbrechern ritterliche Kämpen ſchuf, an denen nicht allein die
ſchöne mittelalterliche Romantik, ſondern auch das wahre Gefühl
für Recht, Zucht und Sitte verloren ging.

Mit dem 18. Jahrhundert beginnt ein furchtbar blu-
tiger Kampf der ſich allmählich aufraffenden Polizei und der

1) Vgl. z. B. Francisco de Quevedo Villegas, „Geſchichte und Leben
des Erzſchelmes genannt Don Paul“, in der trefflichen neuern Ueberſetzung
von J. G. Keil (Leipzig, Brockhaus 1826).
2) Unter denen die 1669 erſchienenen „Abentheur des Simplicius
Simpliciſſimus“ obenan ſtehen, in denen mit Lebendigkeit, Laune und Witz
die Begebenheiten eines Abenteurers in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs
geſchildert werden. Dieſe Schelmenromane erſcheinen als Sittenſchilderungen
ſehr wichtig, obſchon ſie in Anlage und Durchführung lediglich dichteriſche
Compoſitionen ſind. Für den Polizeimann iſt noch beſonders lehrreich: Nico-
laus Ulenhart, „Sonderlich-Curieuſe Hiſtoria von Jſaac Winckelfeldter und
Jobſt von der Schneidt: Wie es dieſen Beyden Geſellen in der Welt-
berühmten Stadt Prag Ergangen“ (neue Auflage 1724).
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[79/0095] Gaunern Beſuche im Gefängniſſe abſtatteten und ihnen reiche Spenden zuwandten, oder ſich mit der auffälligſten Manifeſtation unwerther Theilnahme in Menge an ihren Todesweg oder um das Schaffot drängten: der gemeine Dieb und Mörder ward aber doch als der Held eines unglücklichen Romans betrachtet und ſein Verbrechen zur gefeierten Heldenthat erhoben, ſodaß bei jener ſchon lange begonnenen trübſeligen Nachahmungsſucht der Deutſchen, in der das Gute vom Schlechten nicht immer gehörig erkannt und geſondert wurde, jene eigenthümlichen, den in Spanien zuerſt aufgekommenen picariſchen Romanen 1) nachgeahmten Schel- menromane 2) aufkommen konnten, welche die beliebteſte Lectüre ihrer Zeit bildeten, lange Zeit vorhielten und trotz des ſtrengen Ernſtes, tiefer Sinnigkeit und rügender Satire einem Johann Bal- thaſar Schuppe, Hans Michael Moſcheroſch u. A. vielfachen Stoff zu ihren ſchätzbaren Schriften lieferten, und als die Hauptquellen der Flut von Anekdotenſammlungen jener Zeit gelten müſſen. So erſcheint es zweifelhaft, ob der materielle Schade, den das Gaunerthum anrichtete, größer war, oder der ſittliche Schade, der dadurch entſtand, daß eine falſche Sentimentalität aus gemeinen Verbrechern ritterliche Kämpen ſchuf, an denen nicht allein die ſchöne mittelalterliche Romantik, ſondern auch das wahre Gefühl für Recht, Zucht und Sitte verloren ging. Mit dem 18. Jahrhundert beginnt ein furchtbar blu- tiger Kampf der ſich allmählich aufraffenden Polizei und der 1) Vgl. z. B. Francisco de Quevedo Villegas, „Geſchichte und Leben des Erzſchelmes genannt Don Paul“, in der trefflichen neuern Ueberſetzung von J. G. Keil (Leipzig, Brockhaus 1826). 2) Unter denen die 1669 erſchienenen „Abentheur des Simplicius Simpliciſſimus“ obenan ſtehen, in denen mit Lebendigkeit, Laune und Witz die Begebenheiten eines Abenteurers in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs geſchildert werden. Dieſe Schelmenromane erſcheinen als Sittenſchilderungen ſehr wichtig, obſchon ſie in Anlage und Durchführung lediglich dichteriſche Compoſitionen ſind. Für den Polizeimann iſt noch beſonders lehrreich: Nico- laus Ulenhart, „Sonderlich-Curieuſe Hiſtoria von Jſaac Winckelfeldter und Jobſt von der Schneidt: Wie es dieſen Beyden Geſellen in der Welt- berühmten Stadt Prag Ergangen“ (neue Auflage 1724).

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/95>, abgerufen am 25.11.2024.