licher Reinheit fand das Wesen des Christenthums in Deutsch- land einen ihm verwandten und fruchtbaren Boden. Das Christen- thum wurde in Deutschland am ehesten, vollsten und reinsten Eigenthum des Volks und ist seitdem in Deutschland bei weitem mehr Volkskirche als Staatskirche geblieben. Der Unterschied zwischen der schon vor dem Eingang des Christenthums in Deutsch- land vollständig entwickelten Hierarchie und der Kirche trat auch deshalb zunächst und am klarsten in Deutschland hervor. Das Volk bewahrte das Wesen, die Hierarchie schuf die Formen, mit denen sie nach und nach das Wesen und mit ihm das Volk soweit möglich herabdrückte. So schwand die Einfachheit des christlich-kirchlichen Lebens, verlor sich in Symbole und Cultus- formen und wurde allmählich zu einem sklavischen geistlosen Me- chanismus übergeführt.
Auch der Widerspruch des Lehnswesens mit dem deutschen Elemente trat dann gleich in aller Schärfe hervor, als Karl der Große die Bauern zu Leibeigenen und zur veräußerlichen Sache machte. Die Folge dieses Widerspruchs war, daß auch das Lehnswesen in seiner künstlichen Construction stets eine Menge von Formen schaffen mußte, welche ihm doch selbst keinen größern Halt gaben und stets der deutschen Natur mit jeder einzelnen Form neuen Zwang anthaten. Wie im Wetteifer neben-, gegen- und wiederum miteinander, schuf die Hierarchie und das Lehns- wesen jene Unzahl von Formen, deren Durchführung und Geltend- machung auf Kosten der Volksnatur den wesentlichen Jnhalt der Geschichte des Mittelalters ausmacht.
Sobald der Druck jener Formen unerträglich wurde, flüchtete sich das deutsche Wesen in die entstehenden Städte und that sich hier zu jener festen Gruppirung des Bürgerthums zusammen, das gerade dadurch, daß in ihm das deutsche Wesen gerettet und ge- pflegt wurde, die größte Macht und Gewalt des deutschen Reichs auf die Städte begründete. Die Protection der Städte war in- sofern eine Politik der Fürstenmacht 1), als begriffen wurde, daß
1) Offenbar schwebte dabei das Bild der französischen Könige vor Augen,
licher Reinheit fand das Weſen des Chriſtenthums in Deutſch- land einen ihm verwandten und fruchtbaren Boden. Das Chriſten- thum wurde in Deutſchland am eheſten, vollſten und reinſten Eigenthum des Volks und iſt ſeitdem in Deutſchland bei weitem mehr Volkskirche als Staatskirche geblieben. Der Unterſchied zwiſchen der ſchon vor dem Eingang des Chriſtenthums in Deutſch- land vollſtändig entwickelten Hierarchie und der Kirche trat auch deshalb zunächſt und am klarſten in Deutſchland hervor. Das Volk bewahrte das Weſen, die Hierarchie ſchuf die Formen, mit denen ſie nach und nach das Weſen und mit ihm das Volk ſoweit möglich herabdrückte. So ſchwand die Einfachheit des chriſtlich-kirchlichen Lebens, verlor ſich in Symbole und Cultus- formen und wurde allmählich zu einem ſklaviſchen geiſtloſen Me- chanismus übergeführt.
Auch der Widerſpruch des Lehnsweſens mit dem deutſchen Elemente trat dann gleich in aller Schärfe hervor, als Karl der Große die Bauern zu Leibeigenen und zur veräußerlichen Sache machte. Die Folge dieſes Widerſpruchs war, daß auch das Lehnsweſen in ſeiner künſtlichen Conſtruction ſtets eine Menge von Formen ſchaffen mußte, welche ihm doch ſelbſt keinen größern Halt gaben und ſtets der deutſchen Natur mit jeder einzelnen Form neuen Zwang anthaten. Wie im Wetteifer neben-, gegen- und wiederum miteinander, ſchuf die Hierarchie und das Lehns- weſen jene Unzahl von Formen, deren Durchführung und Geltend- machung auf Koſten der Volksnatur den weſentlichen Jnhalt der Geſchichte des Mittelalters ausmacht.
Sobald der Druck jener Formen unerträglich wurde, flüchtete ſich das deutſche Weſen in die entſtehenden Städte und that ſich hier zu jener feſten Gruppirung des Bürgerthums zuſammen, das gerade dadurch, daß in ihm das deutſche Weſen gerettet und ge- pflegt wurde, die größte Macht und Gewalt des deutſchen Reichs auf die Städte begründete. Die Protection der Städte war in- ſofern eine Politik der Fürſtenmacht 1), als begriffen wurde, daß
1) Offenbar ſchwebte dabei das Bild der franzöſiſchen Könige vor Augen,
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licher Reinheit fand das Weſen des Chriſtenthums in Deutſch-
land einen ihm verwandten und fruchtbaren Boden. Das Chriſten-
thum wurde in Deutſchland am eheſten, vollſten und reinſten
Eigenthum des Volks und iſt ſeitdem in Deutſchland bei weitem
mehr Volkskirche als Staatskirche geblieben. Der Unterſchied
zwiſchen der ſchon vor dem Eingang des Chriſtenthums in Deutſch-
land vollſtändig entwickelten Hierarchie und der Kirche trat auch
deshalb zunächſt und am klarſten in Deutſchland hervor. Das
Volk bewahrte das Weſen, die Hierarchie ſchuf die Formen, mit
denen ſie nach und nach das Weſen und mit ihm das Volk
ſoweit möglich herabdrückte. So ſchwand die Einfachheit des
chriſtlich-kirchlichen Lebens, verlor ſich in Symbole und Cultus-
formen und wurde allmählich zu einem ſklaviſchen geiſtloſen Me-
chanismus übergeführt.
Auch der Widerſpruch des Lehnsweſens mit dem deutſchen
Elemente trat dann gleich in aller Schärfe hervor, als Karl der
Große die Bauern zu Leibeigenen und zur veräußerlichen Sache
machte. Die Folge dieſes Widerſpruchs war, daß auch das
Lehnsweſen in ſeiner künſtlichen Conſtruction ſtets eine Menge
von Formen ſchaffen mußte, welche ihm doch ſelbſt keinen größern
Halt gaben und ſtets der deutſchen Natur mit jeder einzelnen
Form neuen Zwang anthaten. Wie im Wetteifer neben-, gegen-
und wiederum miteinander, ſchuf die Hierarchie und das Lehns-
weſen jene Unzahl von Formen, deren Durchführung und Geltend-
machung auf Koſten der Volksnatur den weſentlichen Jnhalt der
Geſchichte des Mittelalters ausmacht.
Sobald der Druck jener Formen unerträglich wurde, flüchtete
ſich das deutſche Weſen in die entſtehenden Städte und that ſich
hier zu jener feſten Gruppirung des Bürgerthums zuſammen, das
gerade dadurch, daß in ihm das deutſche Weſen gerettet und ge-
pflegt wurde, die größte Macht und Gewalt des deutſchen Reichs
auf die Städte begründete. Die Protection der Städte war in-
ſofern eine Politik der Fürſtenmacht 1), als begriffen wurde, daß
1) Offenbar ſchwebte dabei das Bild der franzöſiſchen Könige vor Augen,
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/73>, abgerufen am 16.02.2025.
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