Anlaß zu einer Menge ähnlicher poetischer und prosaischer Volks- schriften, unter denen der unmittelbar nach dem "Narrenschiff" in dem Zeitraum von 1494--99 zuerst erschienene Liber Vaga- torum, welcher die baseler Bekanntmachung vollständig zu Grunde legte, systematisch redigirte und mit Zusätzen und Exempeln sowie mit einem alphabetisch geordneten Vocabular versah, sich vor allem auszeichnet und daher die vollste Aufmerksamkeit verdient. Lei- der ist diese aber dem Liber Vagatorum von Anfang an nicht ge- worden, so sehr auch die Theologen des 16. Jahrhunderts seine Bedeutsamkeit erkannt und das Buch begünstigt haben. Bei seinem hohen sittlichen Ernst, bei seiner klaren Objectivität, mit welcher es den Betrug in den verschiedenartigsten Formen darlegt, und sich bemüht, das bürgerliche Leben und gerade auch das Haus vor dem Eindringen des Betrugs zu schützen, hat das Buch geradezu den Weg zu einer gesunden deutsch-eigenthümlichen Polizei gezeigt, und hätte die Grundlage zu dieser deutschen Polizei werden und eine analoge Bedeutsamkeit für die Polizei, wie die Peinliche Halsgerichtsordnung für die Criminalrechtspflege, finden müssen, sobald die Polizei jener Zeiten nur bessere Notiz davon genom- men hätte. Leider ist das nicht geschehen, und auch selbst bei dem herrlichen wissenschaftlichen Streben der neuern Zeit ist der Liber Vagatorum noch nicht genügend beachtet, bei der neuesten Wie- dereinführung durch Hoffmann von Fallersleben und Karl Gödeke aber, namentlich von letzterm, in mehrfacher Weise irrthümlich beurtheilt worden. Vulcanius im angeführten Werke, "De lingua Getarum", sagt S. 106, es existire ein "libellus Teutonica lingua ante annos quinquaginta (Vulcanius schrieb 1597) con- scriptus, qui errones hosce in XXVIII classes sive sectas distribuit", womit er offenbar den Liber Vagatorum meint, den er jedoch, wie er überall verräth, nicht selbst gekannt hat. Jobus Ludolfus (Leut-holff dictus) in seinen "Commentationes ad historiam Aethiopicam" (Frankfurt a. M. 1691), S. 215, unterscheidet von den Zigeunern die "ratio et sermo nebulonum mendicantium -- -- Ista (vocabula) congesta sunt in libellum, cui titulus" vom "Barlen der Wanderschaft", und führt hierauf den Titel der
Anlaß zu einer Menge ähnlicher poetiſcher und proſaiſcher Volks- ſchriften, unter denen der unmittelbar nach dem „Narrenſchiff“ in dem Zeitraum von 1494—99 zuerſt erſchienene Liber Vaga- torum, welcher die baſeler Bekanntmachung vollſtändig zu Grunde legte, ſyſtematiſch redigirte und mit Zuſätzen und Exempeln ſowie mit einem alphabetiſch geordneten Vocabular verſah, ſich vor allem auszeichnet und daher die vollſte Aufmerkſamkeit verdient. Lei- der iſt dieſe aber dem Liber Vagatorum von Anfang an nicht ge- worden, ſo ſehr auch die Theologen des 16. Jahrhunderts ſeine Bedeutſamkeit erkannt und das Buch begünſtigt haben. Bei ſeinem hohen ſittlichen Ernſt, bei ſeiner klaren Objectivität, mit welcher es den Betrug in den verſchiedenartigſten Formen darlegt, und ſich bemüht, das bürgerliche Leben und gerade auch das Haus vor dem Eindringen des Betrugs zu ſchützen, hat das Buch geradezu den Weg zu einer geſunden deutſch-eigenthümlichen Polizei gezeigt, und hätte die Grundlage zu dieſer deutſchen Polizei werden und eine analoge Bedeutſamkeit für die Polizei, wie die Peinliche Halsgerichtsordnung für die Criminalrechtspflege, finden müſſen, ſobald die Polizei jener Zeiten nur beſſere Notiz davon genom- men hätte. Leider iſt das nicht geſchehen, und auch ſelbſt bei dem herrlichen wiſſenſchaftlichen Streben der neuern Zeit iſt der Liber Vagatorum noch nicht genügend beachtet, bei der neueſten Wie- dereinführung durch Hoffmann von Fallersleben und Karl Gödeke aber, namentlich von letzterm, in mehrfacher Weiſe irrthümlich beurtheilt worden. Vulcanius im angeführten Werke, „De lingua Getarum“, ſagt S. 106, es exiſtire ein „libellus Teutonica lingua ante annos quinquaginta (Vulcanius ſchrieb 1597) con- scriptus, qui errones hosce in XXVIII classes sive sectas distribuit“, womit er offenbar den Liber Vagatorum meint, den er jedoch, wie er überall verräth, nicht ſelbſt gekannt hat. Jobus Ludolfus (Leut-holff dictus) in ſeinen „Commentationes ad historiam Aethiopicam“ (Frankfurt a. M. 1691), S. 215, unterſcheidet von den Zigeunern die „ratio et sermo nebulonum mendicantium — — Ista (vocabula) congesta sunt in libellum, cui titulus“ vom „Barlen der Wanderſchaft“, und führt hierauf den Titel der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0153"n="137"/>
Anlaß zu einer Menge ähnlicher poetiſcher und proſaiſcher Volks-<lb/>ſchriften, unter denen der unmittelbar nach dem „Narrenſchiff“ in<lb/>
dem Zeitraum von 1494—99 zuerſt erſchienene <hirendition="#aq">Liber Vaga-<lb/>
torum</hi>, welcher die baſeler Bekanntmachung vollſtändig zu Grunde<lb/>
legte, ſyſtematiſch redigirte und mit Zuſätzen und Exempeln ſowie<lb/>
mit einem alphabetiſch geordneten Vocabular verſah, ſich vor<lb/>
allem auszeichnet und daher die vollſte Aufmerkſamkeit verdient. Lei-<lb/>
der iſt dieſe aber dem <hirendition="#aq">Liber Vagatorum</hi> von Anfang an nicht ge-<lb/>
worden, ſo ſehr auch die Theologen des 16. Jahrhunderts ſeine<lb/>
Bedeutſamkeit erkannt und das Buch begünſtigt haben. Bei ſeinem<lb/>
hohen ſittlichen Ernſt, bei ſeiner klaren Objectivität, mit welcher<lb/>
es den Betrug in den verſchiedenartigſten Formen darlegt, und<lb/>ſich bemüht, das bürgerliche Leben und gerade auch das Haus<lb/>
vor dem Eindringen des Betrugs zu ſchützen, hat das Buch<lb/>
geradezu den Weg zu einer geſunden deutſch-eigenthümlichen Polizei<lb/>
gezeigt, und hätte die Grundlage zu dieſer deutſchen Polizei werden<lb/>
und eine analoge Bedeutſamkeit für die Polizei, wie die Peinliche<lb/>
Halsgerichtsordnung für die Criminalrechtspflege, finden müſſen,<lb/>ſobald die Polizei jener Zeiten nur beſſere Notiz davon genom-<lb/>
men hätte. Leider iſt das nicht geſchehen, und auch ſelbſt bei dem<lb/>
herrlichen wiſſenſchaftlichen Streben der neuern Zeit iſt der <hirendition="#aq">Liber<lb/>
Vagatorum</hi> noch nicht genügend beachtet, bei der neueſten Wie-<lb/>
dereinführung durch Hoffmann von Fallersleben und Karl Gödeke<lb/>
aber, namentlich von letzterm, in mehrfacher Weiſe irrthümlich<lb/>
beurtheilt worden. Vulcanius im angeführten Werke, „<hirendition="#aq">De lingua<lb/>
Getarum</hi>“, ſagt S. 106, es exiſtire ein „<hirendition="#aq">libellus Teutonica<lb/>
lingua ante annos quinquaginta</hi> (Vulcanius ſchrieb 1597) <hirendition="#aq">con-<lb/>
scriptus, qui errones hosce in XXVIII classes sive sectas<lb/>
distribuit</hi>“, womit er offenbar den <hirendition="#aq">Liber Vagatorum</hi> meint, den<lb/>
er jedoch, wie er überall verräth, nicht ſelbſt gekannt hat. Jobus<lb/>
Ludolfus (Leut-holff <hirendition="#aq">dictus</hi>) in ſeinen „<hirendition="#aq">Commentationes ad historiam<lb/>
Aethiopicam</hi>“ (Frankfurt a. M. 1691), S. 215, unterſcheidet von<lb/>
den Zigeunern die „<hirendition="#aq">ratio et sermo nebulonum mendicantium ——<lb/>
Ista (vocabula) congesta sunt in libellum, cui titulus</hi>“ vom<lb/>„Barlen der Wanderſchaft“, und führt hierauf den Titel der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[137/0153]
Anlaß zu einer Menge ähnlicher poetiſcher und proſaiſcher Volks-
ſchriften, unter denen der unmittelbar nach dem „Narrenſchiff“ in
dem Zeitraum von 1494—99 zuerſt erſchienene Liber Vaga-
torum, welcher die baſeler Bekanntmachung vollſtändig zu Grunde
legte, ſyſtematiſch redigirte und mit Zuſätzen und Exempeln ſowie
mit einem alphabetiſch geordneten Vocabular verſah, ſich vor
allem auszeichnet und daher die vollſte Aufmerkſamkeit verdient. Lei-
der iſt dieſe aber dem Liber Vagatorum von Anfang an nicht ge-
worden, ſo ſehr auch die Theologen des 16. Jahrhunderts ſeine
Bedeutſamkeit erkannt und das Buch begünſtigt haben. Bei ſeinem
hohen ſittlichen Ernſt, bei ſeiner klaren Objectivität, mit welcher
es den Betrug in den verſchiedenartigſten Formen darlegt, und
ſich bemüht, das bürgerliche Leben und gerade auch das Haus
vor dem Eindringen des Betrugs zu ſchützen, hat das Buch
geradezu den Weg zu einer geſunden deutſch-eigenthümlichen Polizei
gezeigt, und hätte die Grundlage zu dieſer deutſchen Polizei werden
und eine analoge Bedeutſamkeit für die Polizei, wie die Peinliche
Halsgerichtsordnung für die Criminalrechtspflege, finden müſſen,
ſobald die Polizei jener Zeiten nur beſſere Notiz davon genom-
men hätte. Leider iſt das nicht geſchehen, und auch ſelbſt bei dem
herrlichen wiſſenſchaftlichen Streben der neuern Zeit iſt der Liber
Vagatorum noch nicht genügend beachtet, bei der neueſten Wie-
dereinführung durch Hoffmann von Fallersleben und Karl Gödeke
aber, namentlich von letzterm, in mehrfacher Weiſe irrthümlich
beurtheilt worden. Vulcanius im angeführten Werke, „De lingua
Getarum“, ſagt S. 106, es exiſtire ein „libellus Teutonica
lingua ante annos quinquaginta (Vulcanius ſchrieb 1597) con-
scriptus, qui errones hosce in XXVIII classes sive sectas
distribuit“, womit er offenbar den Liber Vagatorum meint, den
er jedoch, wie er überall verräth, nicht ſelbſt gekannt hat. Jobus
Ludolfus (Leut-holff dictus) in ſeinen „Commentationes ad historiam
Aethiopicam“ (Frankfurt a. M. 1691), S. 215, unterſcheidet von
den Zigeunern die „ratio et sermo nebulonum mendicantium — —
Ista (vocabula) congesta sunt in libellum, cui titulus“ vom
„Barlen der Wanderſchaft“, und führt hierauf den Titel der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/153>, abgerufen am 08.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.