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Allgemeine Zeitung. Nr. 124. Augsburg, 3. Mai 1840.

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Zuversicht unsern Weg, gleich dem Blinden und dem Lahmen, weiter fort.

(Beschluß folgt.)

Deutsche und französische Poesie der Gegenwart.

(Fortsetzung.)

Es kann nicht wohl umgangen werden, ein paar allgemeinere Betrachtungen voranzuschicken. Die erste betrifft die verschiedene äußere Stellung des Dichters in Deutschland und in Frankreich zum Publicum, seine Anerkennung bei der Nation. Beim französischen Dichter kommt es hauptsächlich darauf an, daß er in Paris Succeß hat, daß er entweder durch Empfehlung und Protection litterarischer Notabilitäten oder durch die sein Talent anerkennende Presse emporgehoben wird und durchdringt, denn Paris ist, in dieser Beziehung, Frankreich. Ist ihm einmal dieß gelungen, wird er von den mächtigen Organen der öffentlichen Meinung anerkannt (mag immerhin eine Partei gegen ihn seyn), so ist ihm ein gewisser Ruf gesichert, die Schlacht ist gewonnen, Frankreich hat für ihn entschieden, und das Bewußtseyn, von der Nation anerkannt, so zu sagen adoptirt zu seyn, mag ohne Zweifel in vielen Fällen auf das Talent, die Energie, die Begeisterung des Dichters zurückwirken. Die aura popularis wird ihm, wenn nicht Eitelkeit ihn berauscht und ihm den Kopf verrückt, zum hebenden und tragenden Element, worin seine Schwingen zu kühnerem Fluge sich ausbreiten, das ihm die Brust gewaltiger und stolzer schwellen macht. Ganz anders in Deutschland, wo es an einem Centralpunkt der Litteratur und des Geschmacks, wie in Paris (das freilich seine Macht wohl auch launisch und despotisch mißbraucht), fehlt, wo die öffentliche Meinung keine solche Organe hat, wie in Frankreich, und daher auch der Sicherheit und Energie ermangelt, wo kritische Litteraturzeitungen mit einigen hundert Lesern über die Dichter Gericht halten und ihr Verdict häufig in einer Sprache abgeben, welche für den gewöhnlichen Leser beinahe völlig unverständlich ist. Das einem Dichter in dem einen kritischen Blatt gespendete Lob ist für ein anderes ein Motiv, ihn zu ignoriren oder ihn herabzusetzen; der Norddeutsche ist wohl auch gegen den Süddeutschen eingenommen, mißtrauisch, befangen, und umgekehrt; es gibt Localberühmtheiten, die man anderwärts wenig oder gar nicht kennt, und welche kennen zu lernen man zu indolent oder zu eifersüchtig ist; kurz die stärkende und begeisternde Aufmunterung, die in Frankreich häufig auch Talenten zweiten Rangs, wenn schon nicht immer, entgegenkommt, mangelt in Deutschland fast immer. Etwa fünfzehn Jahre brauchte es, bis Uhland und Rückert zu einer bedeutenderen Popularität gelangten! Ein wichtiges Moment zur Erklärung dieser Ungleichheit wird unten noch zur Sprache kommen.

Eine zweite allgemeine Bemerkung betrifft den bei beiden Völkern sehr verschiedenen Charakter ihrer gesammten, besonders aber ihrer lyrischen Poesie. Wenn das Epos eines Volks hauptsächlich seine frühere Geschichte, das Drama (und der Roman) seine öffentlichen und socialen Verhältnisse und Zustände, die herrschenden Gesinnungen, Leidenschaften und Sitten, die typischen Charaktere abspiegelt, so prägt sich in der lyrischen Gattung (im weitesten Sinne) Temperament, Gemüth, Individualität der gesammten Nation und der Einzelnen, wie sie, trotz verschiedener Mischungsverhältnisse bei den Individuen, doch im Durchschnitt ein Gleichartiges constituiren, das man Volksgeist oder Nationalcharakter nennt, ganz besonders aus. Nun sind die Franzosen ein mehr auf das Aeußere, die Erscheinung, das Praktische gerichtetes, die Deutschen ein mehr innerliches, contemplatives und theoretisirendes Volk; jene sind bessere Sprecher, diese tiefere Denker, aber darum nicht eben auch fertigere Dialektiker; vielmehr ist der Franzose im Durchschnitt gewandter und schneller in den logischen Operationen des Subsumirens und Generalisirens, in schnellem Erwiedern, im raschen Treffen, und wenn er auch oft den Nagel nicht auf den Kopf trifft, kommt er doch dem lange bedächtig zielenden Deutschen zuvor. Wie richtig ist das Wort der Frau von Stael: "Ein Franzose weiß immer noch zu sprechen, wenn er auch keine Ideen hat; ein Deutscher hat immer ein ziemliches Mehr im Kopf, als er auszudrücken weiß!" Prüft man nach diesem die poetische Anlage beider Völker, so dürfte sich das Resultat ergeben: in der Poesie, die, wenn eine solche Analyse eines Organischen erlaubt ist, in die Inspiration, oder begeisterte Conception, und in die künstlerische Ausführung zerfällt, kommt den Franzosen in höherem Maaße das Element oder die Gabe der künstlerischen Ausführung, den Deutschen mehr die der poetischen Conception zu. Vielleicht war es auch mit die Ahnung ihrer vergleichungsweisen Schwäche in diesem Punkt, was die Franzosen zu um so größerer Strenge in Betreff der künstlerischen Form trieb und ihnen einen solchen Respect vor classischen Autoritäten und vor den Satzungen der Akademie einflößte. Deßwegen würden Franzosen und Deutsche, selbst wenn nicht der Unterschied der Sprache sie auf verschiedene Standpunkte stellte, und ihnen die poetischen Schöpfungen in dem einen oder dem andern Idiom immer in etwas verschiedenem Licht zeigte, schon ihrer geistigen Begabung nach über die meisten gedichte nicht gänzlich übereinstimmend urtheilen. Man darf wohl behaupten, daß bei den Franzosen die streng künstlerische Darstellung und Ausführung von wichtigen oder ansprechenden, klar und concis ausgedrückten Gedanken schon auf das Prädicat einer ziemlich guten Poesie Anspruch machen kann; Epigramme, Fabeln, Episteln, Satyren der nüchternsten Art (nach unserem Geschmack), wenn nur in schöner, prägnanter, in blühender und volltönender Sprache und den Gesetzen der Prosodie entsprechend, berechtigen zum Titel des Dichters. Der esprit, Geist und Witz, oft ganz ohne das, was wir Poesie nennen, entzückt den Franzosen mehr als die reichste Ergießung von Seele. Aber darum stelle man es sich nicht als so leicht vor in Frankreich ein Dichter zu seyn: die Bedingungen sind andre, aber wohl nicht eben leichtere. In Beziehung auf die Form: Metrum, Cäsur, Reim, sind sie von strengen Gesetzen beherrscht, die nicht ungestraft übertreten werden. Daher darf man wohl mit Recht annehmen, daß der französische Dichter, welcher Beifall und Lob erwirbt, immer das Verdienst der Kunst bis auf einen gewissen Grad besitzt. Nicht entfernt fällt es uns ein, darum den französischen Dichtern überhaupt die poetische Begeisterung absprechen zu wollen - wie sollte man sie einem Lamartine und Victor Hugo nicht zugestehen? - aber ebenso gewiß scheint uns, daß auch bei den Koryphäen der französischen Poesie, verglichen mit der deutschen Poesie, die Richtung auf das Aeußere vorherrscht. Die rhetorische Declamation, welche den einfachen Kern einer Idee, einer Anschauung, selbstgefällig in die Breite zieht und ausspinnt, die ausführliche Schilderung, welche die Bestandtheile des vorliegenden Gegenstandes äußerlich aneinanderreiht und zusammenträgt, statt ihn mit Einem Zauberschlag innerlich entstehen zu lassen und vor die Anschauung hinzustellen, die geistreiche Reflexion, die spielende Dialektik - das sind Elemente, welche in der französischen Poesie jedem Deutschen auffallen müssen, welche, wenn sie nicht zum Extrem getrieben werden, dem französischen Aesthetiker nicht anstößig sind; und in der That, die ausgezeichneteren französischen Dichter wissen auch durch eine kunstvolle und edle Sprache

Zuversicht unsern Weg, gleich dem Blinden und dem Lahmen, weiter fort.

(Beschluß folgt.)

Deutsche und französische Poesie der Gegenwart.

(Fortsetzung.)

Es kann nicht wohl umgangen werden, ein paar allgemeinere Betrachtungen voranzuschicken. Die erste betrifft die verschiedene äußere Stellung des Dichters in Deutschland und in Frankreich zum Publicum, seine Anerkennung bei der Nation. Beim französischen Dichter kommt es hauptsächlich darauf an, daß er in Paris Succeß hat, daß er entweder durch Empfehlung und Protection litterarischer Notabilitäten oder durch die sein Talent anerkennende Presse emporgehoben wird und durchdringt, denn Paris ist, in dieser Beziehung, Frankreich. Ist ihm einmal dieß gelungen, wird er von den mächtigen Organen der öffentlichen Meinung anerkannt (mag immerhin eine Partei gegen ihn seyn), so ist ihm ein gewisser Ruf gesichert, die Schlacht ist gewonnen, Frankreich hat für ihn entschieden, und das Bewußtseyn, von der Nation anerkannt, so zu sagen adoptirt zu seyn, mag ohne Zweifel in vielen Fällen auf das Talent, die Energie, die Begeisterung des Dichters zurückwirken. Die aura popularis wird ihm, wenn nicht Eitelkeit ihn berauscht und ihm den Kopf verrückt, zum hebenden und tragenden Element, worin seine Schwingen zu kühnerem Fluge sich ausbreiten, das ihm die Brust gewaltiger und stolzer schwellen macht. Ganz anders in Deutschland, wo es an einem Centralpunkt der Litteratur und des Geschmacks, wie in Paris (das freilich seine Macht wohl auch launisch und despotisch mißbraucht), fehlt, wo die öffentliche Meinung keine solche Organe hat, wie in Frankreich, und daher auch der Sicherheit und Energie ermangelt, wo kritische Litteraturzeitungen mit einigen hundert Lesern über die Dichter Gericht halten und ihr Verdict häufig in einer Sprache abgeben, welche für den gewöhnlichen Leser beinahe völlig unverständlich ist. Das einem Dichter in dem einen kritischen Blatt gespendete Lob ist für ein anderes ein Motiv, ihn zu ignoriren oder ihn herabzusetzen; der Norddeutsche ist wohl auch gegen den Süddeutschen eingenommen, mißtrauisch, befangen, und umgekehrt; es gibt Localberühmtheiten, die man anderwärts wenig oder gar nicht kennt, und welche kennen zu lernen man zu indolent oder zu eifersüchtig ist; kurz die stärkende und begeisternde Aufmunterung, die in Frankreich häufig auch Talenten zweiten Rangs, wenn schon nicht immer, entgegenkommt, mangelt in Deutschland fast immer. Etwa fünfzehn Jahre brauchte es, bis Uhland und Rückert zu einer bedeutenderen Popularität gelangten! Ein wichtiges Moment zur Erklärung dieser Ungleichheit wird unten noch zur Sprache kommen.

Eine zweite allgemeine Bemerkung betrifft den bei beiden Völkern sehr verschiedenen Charakter ihrer gesammten, besonders aber ihrer lyrischen Poesie. Wenn das Epos eines Volks hauptsächlich seine frühere Geschichte, das Drama (und der Roman) seine öffentlichen und socialen Verhältnisse und Zustände, die herrschenden Gesinnungen, Leidenschaften und Sitten, die typischen Charaktere abspiegelt, so prägt sich in der lyrischen Gattung (im weitesten Sinne) Temperament, Gemüth, Individualität der gesammten Nation und der Einzelnen, wie sie, trotz verschiedener Mischungsverhältnisse bei den Individuen, doch im Durchschnitt ein Gleichartiges constituiren, das man Volksgeist oder Nationalcharakter nennt, ganz besonders aus. Nun sind die Franzosen ein mehr auf das Aeußere, die Erscheinung, das Praktische gerichtetes, die Deutschen ein mehr innerliches, contemplatives und theoretisirendes Volk; jene sind bessere Sprecher, diese tiefere Denker, aber darum nicht eben auch fertigere Dialektiker; vielmehr ist der Franzose im Durchschnitt gewandter und schneller in den logischen Operationen des Subsumirens und Generalisirens, in schnellem Erwiedern, im raschen Treffen, und wenn er auch oft den Nagel nicht auf den Kopf trifft, kommt er doch dem lange bedächtig zielenden Deutschen zuvor. Wie richtig ist das Wort der Frau von Staël: „Ein Franzose weiß immer noch zu sprechen, wenn er auch keine Ideen hat; ein Deutscher hat immer ein ziemliches Mehr im Kopf, als er auszudrücken weiß!“ Prüft man nach diesem die poetische Anlage beider Völker, so dürfte sich das Resultat ergeben: in der Poesie, die, wenn eine solche Analyse eines Organischen erlaubt ist, in die Inspiration, oder begeisterte Conception, und in die künstlerische Ausführung zerfällt, kommt den Franzosen in höherem Maaße das Element oder die Gabe der künstlerischen Ausführung, den Deutschen mehr die der poetischen Conception zu. Vielleicht war es auch mit die Ahnung ihrer vergleichungsweisen Schwäche in diesem Punkt, was die Franzosen zu um so größerer Strenge in Betreff der künstlerischen Form trieb und ihnen einen solchen Respect vor classischen Autoritäten und vor den Satzungen der Akademie einflößte. Deßwegen würden Franzosen und Deutsche, selbst wenn nicht der Unterschied der Sprache sie auf verschiedene Standpunkte stellte, und ihnen die poetischen Schöpfungen in dem einen oder dem andern Idiom immer in etwas verschiedenem Licht zeigte, schon ihrer geistigen Begabung nach über die meisten gedichte nicht gänzlich übereinstimmend urtheilen. Man darf wohl behaupten, daß bei den Franzosen die streng künstlerische Darstellung und Ausführung von wichtigen oder ansprechenden, klar und concis ausgedrückten Gedanken schon auf das Prädicat einer ziemlich guten Poesie Anspruch machen kann; Epigramme, Fabeln, Episteln, Satyren der nüchternsten Art (nach unserem Geschmack), wenn nur in schöner, prägnanter, in blühender und volltönender Sprache und den Gesetzen der Prosodie entsprechend, berechtigen zum Titel des Dichters. Der esprit, Geist und Witz, oft ganz ohne das, was wir Poesie nennen, entzückt den Franzosen mehr als die reichste Ergießung von Seele. Aber darum stelle man es sich nicht als so leicht vor in Frankreich ein Dichter zu seyn: die Bedingungen sind andre, aber wohl nicht eben leichtere. In Beziehung auf die Form: Metrum, Cäsur, Reim, sind sie von strengen Gesetzen beherrscht, die nicht ungestraft übertreten werden. Daher darf man wohl mit Recht annehmen, daß der französische Dichter, welcher Beifall und Lob erwirbt, immer das Verdienst der Kunst bis auf einen gewissen Grad besitzt. Nicht entfernt fällt es uns ein, darum den französischen Dichtern überhaupt die poetische Begeisterung absprechen zu wollen – wie sollte man sie einem Lamartine und Victor Hugo nicht zugestehen? – aber ebenso gewiß scheint uns, daß auch bei den Koryphäen der französischen Poesie, verglichen mit der deutschen Poesie, die Richtung auf das Aeußere vorherrscht. Die rhetorische Declamation, welche den einfachen Kern einer Idee, einer Anschauung, selbstgefällig in die Breite zieht und ausspinnt, die ausführliche Schilderung, welche die Bestandtheile des vorliegenden Gegenstandes äußerlich aneinanderreiht und zusammenträgt, statt ihn mit Einem Zauberschlag innerlich entstehen zu lassen und vor die Anschauung hinzustellen, die geistreiche Reflexion, die spielende Dialektik – das sind Elemente, welche in der französischen Poesie jedem Deutschen auffallen müssen, welche, wenn sie nicht zum Extrem getrieben werden, dem französischen Aesthetiker nicht anstößig sind; und in der That, die ausgezeichneteren französischen Dichter wissen auch durch eine kunstvolle und edle Sprache

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[0987/0011] Zuversicht unsern Weg, gleich dem Blinden und dem Lahmen, weiter fort. (Beschluß folgt.) Deutsche und französische Poesie der Gegenwart. (Fortsetzung.) Es kann nicht wohl umgangen werden, ein paar allgemeinere Betrachtungen voranzuschicken. Die erste betrifft die verschiedene äußere Stellung des Dichters in Deutschland und in Frankreich zum Publicum, seine Anerkennung bei der Nation. Beim französischen Dichter kommt es hauptsächlich darauf an, daß er in Paris Succeß hat, daß er entweder durch Empfehlung und Protection litterarischer Notabilitäten oder durch die sein Talent anerkennende Presse emporgehoben wird und durchdringt, denn Paris ist, in dieser Beziehung, Frankreich. Ist ihm einmal dieß gelungen, wird er von den mächtigen Organen der öffentlichen Meinung anerkannt (mag immerhin eine Partei gegen ihn seyn), so ist ihm ein gewisser Ruf gesichert, die Schlacht ist gewonnen, Frankreich hat für ihn entschieden, und das Bewußtseyn, von der Nation anerkannt, so zu sagen adoptirt zu seyn, mag ohne Zweifel in vielen Fällen auf das Talent, die Energie, die Begeisterung des Dichters zurückwirken. Die aura popularis wird ihm, wenn nicht Eitelkeit ihn berauscht und ihm den Kopf verrückt, zum hebenden und tragenden Element, worin seine Schwingen zu kühnerem Fluge sich ausbreiten, das ihm die Brust gewaltiger und stolzer schwellen macht. Ganz anders in Deutschland, wo es an einem Centralpunkt der Litteratur und des Geschmacks, wie in Paris (das freilich seine Macht wohl auch launisch und despotisch mißbraucht), fehlt, wo die öffentliche Meinung keine solche Organe hat, wie in Frankreich, und daher auch der Sicherheit und Energie ermangelt, wo kritische Litteraturzeitungen mit einigen hundert Lesern über die Dichter Gericht halten und ihr Verdict häufig in einer Sprache abgeben, welche für den gewöhnlichen Leser beinahe völlig unverständlich ist. Das einem Dichter in dem einen kritischen Blatt gespendete Lob ist für ein anderes ein Motiv, ihn zu ignoriren oder ihn herabzusetzen; der Norddeutsche ist wohl auch gegen den Süddeutschen eingenommen, mißtrauisch, befangen, und umgekehrt; es gibt Localberühmtheiten, die man anderwärts wenig oder gar nicht kennt, und welche kennen zu lernen man zu indolent oder zu eifersüchtig ist; kurz die stärkende und begeisternde Aufmunterung, die in Frankreich häufig auch Talenten zweiten Rangs, wenn schon nicht immer, entgegenkommt, mangelt in Deutschland fast immer. Etwa fünfzehn Jahre brauchte es, bis Uhland und Rückert zu einer bedeutenderen Popularität gelangten! Ein wichtiges Moment zur Erklärung dieser Ungleichheit wird unten noch zur Sprache kommen. Eine zweite allgemeine Bemerkung betrifft den bei beiden Völkern sehr verschiedenen Charakter ihrer gesammten, besonders aber ihrer lyrischen Poesie. Wenn das Epos eines Volks hauptsächlich seine frühere Geschichte, das Drama (und der Roman) seine öffentlichen und socialen Verhältnisse und Zustände, die herrschenden Gesinnungen, Leidenschaften und Sitten, die typischen Charaktere abspiegelt, so prägt sich in der lyrischen Gattung (im weitesten Sinne) Temperament, Gemüth, Individualität der gesammten Nation und der Einzelnen, wie sie, trotz verschiedener Mischungsverhältnisse bei den Individuen, doch im Durchschnitt ein Gleichartiges constituiren, das man Volksgeist oder Nationalcharakter nennt, ganz besonders aus. Nun sind die Franzosen ein mehr auf das Aeußere, die Erscheinung, das Praktische gerichtetes, die Deutschen ein mehr innerliches, contemplatives und theoretisirendes Volk; jene sind bessere Sprecher, diese tiefere Denker, aber darum nicht eben auch fertigere Dialektiker; vielmehr ist der Franzose im Durchschnitt gewandter und schneller in den logischen Operationen des Subsumirens und Generalisirens, in schnellem Erwiedern, im raschen Treffen, und wenn er auch oft den Nagel nicht auf den Kopf trifft, kommt er doch dem lange bedächtig zielenden Deutschen zuvor. Wie richtig ist das Wort der Frau von Staël: „Ein Franzose weiß immer noch zu sprechen, wenn er auch keine Ideen hat; ein Deutscher hat immer ein ziemliches Mehr im Kopf, als er auszudrücken weiß!“ Prüft man nach diesem die poetische Anlage beider Völker, so dürfte sich das Resultat ergeben: in der Poesie, die, wenn eine solche Analyse eines Organischen erlaubt ist, in die Inspiration, oder begeisterte Conception, und in die künstlerische Ausführung zerfällt, kommt den Franzosen in höherem Maaße das Element oder die Gabe der künstlerischen Ausführung, den Deutschen mehr die der poetischen Conception zu. Vielleicht war es auch mit die Ahnung ihrer vergleichungsweisen Schwäche in diesem Punkt, was die Franzosen zu um so größerer Strenge in Betreff der künstlerischen Form trieb und ihnen einen solchen Respect vor classischen Autoritäten und vor den Satzungen der Akademie einflößte. Deßwegen würden Franzosen und Deutsche, selbst wenn nicht der Unterschied der Sprache sie auf verschiedene Standpunkte stellte, und ihnen die poetischen Schöpfungen in dem einen oder dem andern Idiom immer in etwas verschiedenem Licht zeigte, schon ihrer geistigen Begabung nach über die meisten gedichte nicht gänzlich übereinstimmend urtheilen. Man darf wohl behaupten, daß bei den Franzosen die streng künstlerische Darstellung und Ausführung von wichtigen oder ansprechenden, klar und concis ausgedrückten Gedanken schon auf das Prädicat einer ziemlich guten Poesie Anspruch machen kann; Epigramme, Fabeln, Episteln, Satyren der nüchternsten Art (nach unserem Geschmack), wenn nur in schöner, prägnanter, in blühender und volltönender Sprache und den Gesetzen der Prosodie entsprechend, berechtigen zum Titel des Dichters. Der esprit, Geist und Witz, oft ganz ohne das, was wir Poesie nennen, entzückt den Franzosen mehr als die reichste Ergießung von Seele. Aber darum stelle man es sich nicht als so leicht vor in Frankreich ein Dichter zu seyn: die Bedingungen sind andre, aber wohl nicht eben leichtere. In Beziehung auf die Form: Metrum, Cäsur, Reim, sind sie von strengen Gesetzen beherrscht, die nicht ungestraft übertreten werden. Daher darf man wohl mit Recht annehmen, daß der französische Dichter, welcher Beifall und Lob erwirbt, immer das Verdienst der Kunst bis auf einen gewissen Grad besitzt. Nicht entfernt fällt es uns ein, darum den französischen Dichtern überhaupt die poetische Begeisterung absprechen zu wollen – wie sollte man sie einem Lamartine und Victor Hugo nicht zugestehen? – aber ebenso gewiß scheint uns, daß auch bei den Koryphäen der französischen Poesie, verglichen mit der deutschen Poesie, die Richtung auf das Aeußere vorherrscht. Die rhetorische Declamation, welche den einfachen Kern einer Idee, einer Anschauung, selbstgefällig in die Breite zieht und ausspinnt, die ausführliche Schilderung, welche die Bestandtheile des vorliegenden Gegenstandes äußerlich aneinanderreiht und zusammenträgt, statt ihn mit Einem Zauberschlag innerlich entstehen zu lassen und vor die Anschauung hinzustellen, die geistreiche Reflexion, die spielende Dialektik – das sind Elemente, welche in der französischen Poesie jedem Deutschen auffallen müssen, welche, wenn sie nicht zum Extrem getrieben werden, dem französischen Aesthetiker nicht anstößig sind; und in der That, die ausgezeichneteren französischen Dichter wissen auch durch eine kunstvolle und edle Sprache

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 124. Augsburg, 3. Mai 1840, S. 0987. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_124_18400503/11>, abgerufen am 24.11.2024.