Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 107. Augsburg, 16. April 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
Preußen.

Sie fragen mich, welchen Eindruck die Beendigung der Ministerialkrisis in Frankreich in unsern Gauen gemacht habe. Als im verflossenen Jahr das Ministerium Mole abtreten mußte, hoffte man auf die Bildung eines Gouvernements unter dem Vorsitze von Thiers, indem man darin eine Bürgschaft für Erhaltung des Friedens und der Ordnung erblickte. Wir, die wir Frankreich näher wohnen, glauben uns nämlich in dieser Hinsicht zu ganz andern Urtheilen berechtigt, als diejenigen sind, welche die norddeutschen Blätter enthalten, oder welche aus halbofficiellen Federn fließen. Unsere Nachbarn sind revolutionsmüde, und weil sie dieß sind, so wird der Grundsatz le roi regne, mais il ne gouverne pas, mit Strenge und mit Eifersucht von ihnen vertheidigt. Nicht allein unter den Politikern gewisser Nuancen, sondern in den Massen ist die Meinung verbreitet, daß die consequente Durchführung dieses Princips allein gegen die Wiederkehr von Ereignissen schützen könne, die alle Existenzen in Frage stellen, und bei dem günstigsten Ausgange eine Menge von Interessen compromittiren. So lange dasselbe beharrlich festgehalten wird, ist die Veränderung eines Verwaltungssystems nur eine Aenderung des Ministeriums; sobald es verlassen wird, ist sie eine Revolution, oder kann sie werden. Es ist daher nicht richtig, wenn man, wie in Deutschland fast durchweg geschieht, annimmt, daß es den Franzosen um Erniedrigung der königl. Macht zu thun, und daß der Kampf der liberalen Fractionen in den Kammern nichts Anderes, als eine allmähliche Unterwühlung des Bodens bezwecke, worauf der Thron steht, dessen Einsturz gewünscht werde. Im Gegentheil darf man glauben, daß es den Verständigen und allen, welche etwas zu verlieren haben, darum zu thun sey, den Thron dem Bereiche der politischen Bestrebungen und Zerwürfnisse, und der stets wiederkehrenden, das Wohl der Massen so nahe berührenden und darum so verhängnißvollen großen Verwaltungsfragen zu entrücken, und ihn dadurch auf ein Gebiet zu bringen, wo er nicht länger der Gegenstand der Anfeindungen ist, und von der Volksmeinung nicht mehr für die gouvernementalen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann. Es ist das Beispiel von England, welches man in Frankreich gern verwirklicht wüßte; und wir, die wir an den Gränzen wohnen, und unseren Frieden und unsere Industrie von den gewaltsamen Erschütterungen im Nachbarlande so oft bedroht gesehen haben, wünschen aufrichtig, daß ein Zustand sich bilde, welcher den Uebergang von einem zu dem andern Regierungssystem an keine anderen Opfer, als einen Ministerwechsel knüpfe. Darum wünschten wir vor Jahr und Tag das Zustandekommen eines Ministeriums Thiers, weil wir dachten, daß der Sieg des erwähnten Princips darin ausgesprochen, und das Königthum selbst der parlamentarischen Dialektik, so wie dem zerrenden Eifer der Presse dadurch entzogen sey. Daß die Combination damals scheiterte, betrachtete man hier zu Lande als ein Unglück für die Dynastie, denn es schien in dem Gange der Unterhandlungen und im Schlußresultate ein so offenes Streben in der entgegengesetzten Richtung, so viel List und Absichtlichkeit zu liegen, daß man über den unvermeidlichen Eindruck im Volk sich nicht verblenden konnte. In dem Siege der königlichen Prärogative sahen darum viele Freunde der Ordnung eine beginnende Niederlage. Karl X würde nicht verjagt worden seyn, sagten sie, wenn die Krone sich nicht selbst für die Handlungen ihrer Minister verantwortlich gemacht hätte; und wenn dem Kaiser der Besitz und die Uebung der ungetheilten Macht von der Nation verziehen ward, so geschah es nur, weil sein blendender Ruhm und seine persönliche Gewalt, der nie gesehene Glanz, den er um Frankreich verbreitete, und der Wohlstand, den er schuf, ihn als ein höheres Wesen betrachten ließen, und das Siegel des Verstummens auf alle Lippen drückten. Gleiche Ansprüche hat der gegenwärtige Throninhaber nicht zu machen. Zwar kann nicht behauptet werden, daß unter der Herrschaft der Ministerien, deren wirklicher Lenker der König gewesen ist, irgend etwas Verfassungswidriges geschehen oder erstrebt worden sey; aber es ist auch nicht die That, welcher man begegnen will, sondern das Princip, welches zur That führt. Rechnen Sie dazu noch, daß man dem König eine überwiegende Vorliebe für seine dynastischen Interessen zutraut, und geneigt ist, in allen Fällen, wo die Stimme Frankreichs nicht sofort und ohne Widerrede im Rathe der Mächte prävalirt, zu vermuthen und auszusprechen, daß die Ehre und der Ruhm der Nation der Erhaltung des guten Vernehmens mit den fremden Monarchen aus persönlicher Condescendenz zum Opfer gebracht worden sey, so wird die Meinung nicht mehr befremden, daß die Verwirklichung der mehrerwähnten politischen Maxime noch mehr im Interesse des Königthums als in irgend einem andern liege. Wenn daher gefragt wird, wie man hier die Befestigung des neuen Ministeriums betrachte, so könnte man wieder sagen: als eine Bürgschaft der Ordnung und des Friedens, denn dieses Ministerium selbst ist die Verkörperung jenes Princips. Aber die Sache hat einen Beigeschmack gewonnen, den sie vor Jahr und Tag nicht gehabt haben würde, und deßhalb ist auch die Freude über die Entwickelung der Sache sehr getrübt. Man glaubt wohl, daß das neue Ministerium sich mehr und mehr befestigen, und von längerer Dauer, als eines der abgetretenen seyn werde; man erwartet davon einen festen Gang in der orientalischen Politik, und was uns weit mehr interessirt, eine regere Thätigkeit für die innere Entwickelung des großen Reichs durch Beförderung der großen Verkehrsmittel, Eisenbahnen und Canalbauten. Aber man besorgt auch, daß das Ministerium nicht unabhängig in seinen Richtungen sey, und daß, wie es genöthigt worden, sich mit der Linken zu verbinden, um Consistenz zu gewinnen, und den Freunden des Hofs und den Anhängern der gefallenen Notabilitäten zu widerstehen, so es auch Verbindlichkeiten, wenigstens moralische, eingegangen seyn möge, die Zwecke jener Fraction zu fördern. Auch die Unterstützung, welche der Führer der Legitimisten dem neuen Cabinet gewährt hat, zeigt, daß man es auf der Bahn der Fortschritte glaubt, und gerne darauf beflügeln möchte; darin halten die Tendenzen der Legitimisten und der Ultraliberalen gleichen Schritt: die einen treiben an, weil sie wirklich republicanische Institutionen, je nach der Entschiedenheit ihrer politischen Grundsätze, mit oder ohne Thron, begehren, die andern, weil sie der Meinung sind, daß nach Durchlaufen der verschiedenen Phasen Frankreich endlich doch wieder zur ältern Linie der Bourbons zurückgelangen werde, und daß diesem Ziele nicht rascher und sicherer zuzueilen sey, als indem man die unvermeidlichen Metamorphosen in den öffentlichen Zuständen beschleunige. Für die Bewohner der Gränzlande haben solche Betrachtungen etwas Besorgnißerweckendes. Wir haben noch nicht vergessen, daß Hr. Thiers den Traum von den natürlichen Gränzen mit eben so viel Liebe pflegt, wie alle andern Franzosen: es ist der Gedanke, mit dem man in Frankreich aufsteht, und sich niederlegt, der Gedanke, in dem sich alle Parteien verstehen, für den man Afrika aufgibt, und Rußland oder England die Entscheidung der orientalischen Frage ohne Bedenken abandonnirt. Ein Mann von dem Ehrgeize, dem Talente und der Entschiedenheit wie Hr. Thiers, ein Mann, der so große Erwartungen zu rechtfertigen

Preußen.

Sie fragen mich, welchen Eindruck die Beendigung der Ministerialkrisis in Frankreich in unsern Gauen gemacht habe. Als im verflossenen Jahr das Ministerium Molé abtreten mußte, hoffte man auf die Bildung eines Gouvernements unter dem Vorsitze von Thiers, indem man darin eine Bürgschaft für Erhaltung des Friedens und der Ordnung erblickte. Wir, die wir Frankreich näher wohnen, glauben uns nämlich in dieser Hinsicht zu ganz andern Urtheilen berechtigt, als diejenigen sind, welche die norddeutschen Blätter enthalten, oder welche aus halbofficiellen Federn fließen. Unsere Nachbarn sind revolutionsmüde, und weil sie dieß sind, so wird der Grundsatz le roi regne, mais il ne gouverne pas, mit Strenge und mit Eifersucht von ihnen vertheidigt. Nicht allein unter den Politikern gewisser Nuancen, sondern in den Massen ist die Meinung verbreitet, daß die consequente Durchführung dieses Princips allein gegen die Wiederkehr von Ereignissen schützen könne, die alle Existenzen in Frage stellen, und bei dem günstigsten Ausgange eine Menge von Interessen compromittiren. So lange dasselbe beharrlich festgehalten wird, ist die Veränderung eines Verwaltungssystems nur eine Aenderung des Ministeriums; sobald es verlassen wird, ist sie eine Revolution, oder kann sie werden. Es ist daher nicht richtig, wenn man, wie in Deutschland fast durchweg geschieht, annimmt, daß es den Franzosen um Erniedrigung der königl. Macht zu thun, und daß der Kampf der liberalen Fractionen in den Kammern nichts Anderes, als eine allmähliche Unterwühlung des Bodens bezwecke, worauf der Thron steht, dessen Einsturz gewünscht werde. Im Gegentheil darf man glauben, daß es den Verständigen und allen, welche etwas zu verlieren haben, darum zu thun sey, den Thron dem Bereiche der politischen Bestrebungen und Zerwürfnisse, und der stets wiederkehrenden, das Wohl der Massen so nahe berührenden und darum so verhängnißvollen großen Verwaltungsfragen zu entrücken, und ihn dadurch auf ein Gebiet zu bringen, wo er nicht länger der Gegenstand der Anfeindungen ist, und von der Volksmeinung nicht mehr für die gouvernementalen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann. Es ist das Beispiel von England, welches man in Frankreich gern verwirklicht wüßte; und wir, die wir an den Gränzen wohnen, und unseren Frieden und unsere Industrie von den gewaltsamen Erschütterungen im Nachbarlande so oft bedroht gesehen haben, wünschen aufrichtig, daß ein Zustand sich bilde, welcher den Uebergang von einem zu dem andern Regierungssystem an keine anderen Opfer, als einen Ministerwechsel knüpfe. Darum wünschten wir vor Jahr und Tag das Zustandekommen eines Ministeriums Thiers, weil wir dachten, daß der Sieg des erwähnten Princips darin ausgesprochen, und das Königthum selbst der parlamentarischen Dialektik, so wie dem zerrenden Eifer der Presse dadurch entzogen sey. Daß die Combination damals scheiterte, betrachtete man hier zu Lande als ein Unglück für die Dynastie, denn es schien in dem Gange der Unterhandlungen und im Schlußresultate ein so offenes Streben in der entgegengesetzten Richtung, so viel List und Absichtlichkeit zu liegen, daß man über den unvermeidlichen Eindruck im Volk sich nicht verblenden konnte. In dem Siege der königlichen Prärogative sahen darum viele Freunde der Ordnung eine beginnende Niederlage. Karl X würde nicht verjagt worden seyn, sagten sie, wenn die Krone sich nicht selbst für die Handlungen ihrer Minister verantwortlich gemacht hätte; und wenn dem Kaiser der Besitz und die Uebung der ungetheilten Macht von der Nation verziehen ward, so geschah es nur, weil sein blendender Ruhm und seine persönliche Gewalt, der nie gesehene Glanz, den er um Frankreich verbreitete, und der Wohlstand, den er schuf, ihn als ein höheres Wesen betrachten ließen, und das Siegel des Verstummens auf alle Lippen drückten. Gleiche Ansprüche hat der gegenwärtige Throninhaber nicht zu machen. Zwar kann nicht behauptet werden, daß unter der Herrschaft der Ministerien, deren wirklicher Lenker der König gewesen ist, irgend etwas Verfassungswidriges geschehen oder erstrebt worden sey; aber es ist auch nicht die That, welcher man begegnen will, sondern das Princip, welches zur That führt. Rechnen Sie dazu noch, daß man dem König eine überwiegende Vorliebe für seine dynastischen Interessen zutraut, und geneigt ist, in allen Fällen, wo die Stimme Frankreichs nicht sofort und ohne Widerrede im Rathe der Mächte prävalirt, zu vermuthen und auszusprechen, daß die Ehre und der Ruhm der Nation der Erhaltung des guten Vernehmens mit den fremden Monarchen aus persönlicher Condescendenz zum Opfer gebracht worden sey, so wird die Meinung nicht mehr befremden, daß die Verwirklichung der mehrerwähnten politischen Maxime noch mehr im Interesse des Königthums als in irgend einem andern liege. Wenn daher gefragt wird, wie man hier die Befestigung des neuen Ministeriums betrachte, so könnte man wieder sagen: als eine Bürgschaft der Ordnung und des Friedens, denn dieses Ministerium selbst ist die Verkörperung jenes Princips. Aber die Sache hat einen Beigeschmack gewonnen, den sie vor Jahr und Tag nicht gehabt haben würde, und deßhalb ist auch die Freude über die Entwickelung der Sache sehr getrübt. Man glaubt wohl, daß das neue Ministerium sich mehr und mehr befestigen, und von längerer Dauer, als eines der abgetretenen seyn werde; man erwartet davon einen festen Gang in der orientalischen Politik, und was uns weit mehr interessirt, eine regere Thätigkeit für die innere Entwickelung des großen Reichs durch Beförderung der großen Verkehrsmittel, Eisenbahnen und Canalbauten. Aber man besorgt auch, daß das Ministerium nicht unabhängig in seinen Richtungen sey, und daß, wie es genöthigt worden, sich mit der Linken zu verbinden, um Consistenz zu gewinnen, und den Freunden des Hofs und den Anhängern der gefallenen Notabilitäten zu widerstehen, so es auch Verbindlichkeiten, wenigstens moralische, eingegangen seyn möge, die Zwecke jener Fraction zu fördern. Auch die Unterstützung, welche der Führer der Legitimisten dem neuen Cabinet gewährt hat, zeigt, daß man es auf der Bahn der Fortschritte glaubt, und gerne darauf beflügeln möchte; darin halten die Tendenzen der Legitimisten und der Ultraliberalen gleichen Schritt: die einen treiben an, weil sie wirklich republicanische Institutionen, je nach der Entschiedenheit ihrer politischen Grundsätze, mit oder ohne Thron, begehren, die andern, weil sie der Meinung sind, daß nach Durchlaufen der verschiedenen Phasen Frankreich endlich doch wieder zur ältern Linie der Bourbons zurückgelangen werde, und daß diesem Ziele nicht rascher und sicherer zuzueilen sey, als indem man die unvermeidlichen Metamorphosen in den öffentlichen Zuständen beschleunige. Für die Bewohner der Gränzlande haben solche Betrachtungen etwas Besorgnißerweckendes. Wir haben noch nicht vergessen, daß Hr. Thiers den Traum von den natürlichen Gränzen mit eben so viel Liebe pflegt, wie alle andern Franzosen: es ist der Gedanke, mit dem man in Frankreich aufsteht, und sich niederlegt, der Gedanke, in dem sich alle Parteien verstehen, für den man Afrika aufgibt, und Rußland oder England die Entscheidung der orientalischen Frage ohne Bedenken abandonnirt. Ein Mann von dem Ehrgeize, dem Talente und der Entschiedenheit wie Hr. Thiers, ein Mann, der so große Erwartungen zu rechtfertigen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0007" n="0855"/>
        </div>
      </div>
      <div type="jArticle" n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Preußen.</hi> </head><lb/>
        <div n="2">
          <byline>
            <docAuthor>
              <gap reason="insignificant"/>
            </docAuthor>
          </byline>
          <dateline><hi rendition="#b">Vom Niederrhein,</hi> 8 April.</dateline>
          <p> Sie fragen mich, welchen Eindruck die Beendigung der Ministerialkrisis in Frankreich in unsern Gauen gemacht habe. Als im verflossenen Jahr das Ministerium Molé abtreten mußte, hoffte man auf die Bildung eines Gouvernements unter dem Vorsitze von Thiers, indem man darin eine Bürgschaft für Erhaltung des Friedens und der Ordnung erblickte. Wir, die wir Frankreich näher wohnen, glauben uns nämlich in dieser Hinsicht zu ganz andern Urtheilen berechtigt, als diejenigen sind, welche die norddeutschen Blätter enthalten, oder welche aus halbofficiellen Federn fließen. Unsere Nachbarn sind revolutionsmüde, und weil sie dieß sind, so wird der Grundsatz le roi regne, mais il ne gouverne pas, mit Strenge und mit Eifersucht von ihnen vertheidigt. Nicht allein unter den Politikern gewisser Nuancen, sondern in den Massen ist die Meinung verbreitet, daß die consequente Durchführung dieses Princips allein gegen die Wiederkehr von Ereignissen schützen könne, die alle Existenzen in Frage stellen, und bei dem günstigsten Ausgange eine Menge von Interessen compromittiren. So lange dasselbe beharrlich festgehalten wird, ist die Veränderung eines Verwaltungssystems nur eine Aenderung des Ministeriums; sobald es verlassen wird, ist sie eine Revolution, oder kann sie werden. Es ist daher nicht richtig, wenn man, wie in Deutschland fast durchweg geschieht, annimmt, daß es den Franzosen um Erniedrigung der königl. Macht zu thun, und daß der Kampf der liberalen Fractionen in den Kammern nichts Anderes, als eine allmähliche Unterwühlung des Bodens bezwecke, worauf der Thron steht, dessen Einsturz gewünscht werde. Im Gegentheil darf man glauben, daß es den Verständigen und allen, welche etwas zu verlieren haben, darum zu thun sey, den Thron dem Bereiche der politischen Bestrebungen und Zerwürfnisse, und der stets wiederkehrenden, das Wohl der Massen so nahe berührenden und darum so verhängnißvollen großen Verwaltungsfragen zu entrücken, und ihn dadurch auf ein Gebiet zu bringen, wo er nicht länger der Gegenstand der Anfeindungen ist, und von der Volksmeinung nicht mehr für die gouvernementalen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann. Es ist das Beispiel von England, welches man in Frankreich gern verwirklicht wüßte; und wir, die wir an den Gränzen wohnen, und unseren Frieden und unsere Industrie von den gewaltsamen Erschütterungen im Nachbarlande so oft bedroht gesehen haben, wünschen aufrichtig, daß ein Zustand sich bilde, welcher den Uebergang von einem zu dem andern Regierungssystem an keine anderen Opfer, als einen Ministerwechsel knüpfe. Darum wünschten wir vor Jahr und Tag das Zustandekommen eines Ministeriums Thiers, weil wir dachten, daß der Sieg des erwähnten Princips darin ausgesprochen, und das Königthum selbst der parlamentarischen Dialektik, so wie dem zerrenden Eifer der Presse dadurch entzogen sey. Daß die Combination damals scheiterte, betrachtete man hier zu Lande als ein Unglück für die Dynastie, denn es schien in dem Gange der Unterhandlungen und im Schlußresultate ein so offenes Streben in der entgegengesetzten Richtung, so viel List und Absichtlichkeit zu liegen, daß man über den unvermeidlichen Eindruck im Volk sich nicht verblenden konnte. In dem Siege der königlichen Prärogative sahen darum viele Freunde der Ordnung eine beginnende Niederlage. Karl X würde nicht verjagt worden seyn, sagten sie, wenn die Krone sich nicht selbst für die Handlungen ihrer Minister verantwortlich gemacht hätte; und wenn dem Kaiser der Besitz und die Uebung der ungetheilten Macht von der Nation verziehen ward, so geschah es nur, weil sein blendender Ruhm und seine persönliche Gewalt, der nie gesehene Glanz, den er um Frankreich verbreitete, und der Wohlstand, den er schuf, ihn als ein höheres Wesen betrachten ließen, und das Siegel des Verstummens auf alle Lippen drückten. Gleiche Ansprüche hat der gegenwärtige Throninhaber nicht zu machen. Zwar kann nicht behauptet werden, daß unter der Herrschaft der Ministerien, deren wirklicher Lenker der König gewesen ist, irgend etwas Verfassungswidriges geschehen oder erstrebt worden sey; aber es ist auch nicht die That, welcher man begegnen will, sondern das Princip, welches zur That führt. Rechnen Sie dazu noch, daß man dem König eine überwiegende Vorliebe für seine dynastischen Interessen zutraut, und geneigt ist, in allen Fällen, wo die Stimme Frankreichs nicht sofort und ohne Widerrede im Rathe der Mächte prävalirt, zu vermuthen und auszusprechen, daß die Ehre und der Ruhm der Nation der Erhaltung des guten Vernehmens mit den fremden Monarchen aus persönlicher Condescendenz zum Opfer gebracht worden sey, so wird die Meinung nicht mehr befremden, daß die Verwirklichung der mehrerwähnten politischen Maxime noch mehr im Interesse des Königthums als in irgend einem andern liege. Wenn daher gefragt wird, wie man hier die Befestigung des neuen Ministeriums betrachte, so könnte man wieder sagen: als eine Bürgschaft der Ordnung und des Friedens, denn dieses Ministerium selbst ist die Verkörperung jenes Princips. Aber die Sache hat einen Beigeschmack gewonnen, den sie vor Jahr und Tag nicht gehabt haben würde, und deßhalb ist auch die Freude über die Entwickelung der Sache sehr getrübt. Man glaubt wohl, daß das neue Ministerium sich mehr und mehr befestigen, und von längerer Dauer, als eines der abgetretenen seyn werde; man erwartet davon einen festen Gang in der orientalischen Politik, und was uns weit mehr interessirt, eine regere Thätigkeit für die innere Entwickelung des großen Reichs durch Beförderung der großen Verkehrsmittel, Eisenbahnen und Canalbauten. Aber man besorgt auch, daß das Ministerium nicht unabhängig in seinen Richtungen sey, und daß, wie es genöthigt worden, sich mit der Linken zu verbinden, um Consistenz zu gewinnen, und den Freunden des Hofs und den Anhängern der gefallenen Notabilitäten zu widerstehen, so es auch Verbindlichkeiten, wenigstens moralische, eingegangen seyn möge, die Zwecke jener Fraction zu fördern. Auch die Unterstützung, welche der Führer der Legitimisten dem neuen Cabinet gewährt hat, zeigt, daß man es auf der Bahn der Fortschritte glaubt, und gerne darauf beflügeln möchte; darin halten die Tendenzen der Legitimisten und der Ultraliberalen gleichen Schritt: die einen treiben an, weil sie wirklich republicanische Institutionen, je nach der Entschiedenheit ihrer politischen Grundsätze, mit oder ohne Thron, begehren, die andern, weil sie der Meinung sind, daß nach Durchlaufen der verschiedenen Phasen Frankreich endlich doch wieder zur ältern Linie der Bourbons zurückgelangen werde, und daß diesem Ziele nicht rascher und sicherer zuzueilen sey, als indem man die unvermeidlichen Metamorphosen in den öffentlichen Zuständen beschleunige. Für die Bewohner der Gränzlande haben solche Betrachtungen etwas Besorgnißerweckendes. Wir haben noch nicht vergessen, daß Hr. Thiers den Traum von den natürlichen Gränzen mit eben so viel Liebe pflegt, wie alle andern Franzosen: es ist der Gedanke, mit dem man in Frankreich aufsteht, und sich niederlegt, der Gedanke, in dem sich alle Parteien verstehen, für den man Afrika aufgibt, und Rußland oder England die Entscheidung der orientalischen Frage ohne Bedenken abandonnirt. Ein Mann von dem Ehrgeize, dem Talente und der Entschiedenheit wie Hr. Thiers, ein Mann, der so große Erwartungen zu rechtfertigen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0855/0007] Preußen. _ Vom Niederrhein, 8 April. Sie fragen mich, welchen Eindruck die Beendigung der Ministerialkrisis in Frankreich in unsern Gauen gemacht habe. Als im verflossenen Jahr das Ministerium Molé abtreten mußte, hoffte man auf die Bildung eines Gouvernements unter dem Vorsitze von Thiers, indem man darin eine Bürgschaft für Erhaltung des Friedens und der Ordnung erblickte. Wir, die wir Frankreich näher wohnen, glauben uns nämlich in dieser Hinsicht zu ganz andern Urtheilen berechtigt, als diejenigen sind, welche die norddeutschen Blätter enthalten, oder welche aus halbofficiellen Federn fließen. Unsere Nachbarn sind revolutionsmüde, und weil sie dieß sind, so wird der Grundsatz le roi regne, mais il ne gouverne pas, mit Strenge und mit Eifersucht von ihnen vertheidigt. Nicht allein unter den Politikern gewisser Nuancen, sondern in den Massen ist die Meinung verbreitet, daß die consequente Durchführung dieses Princips allein gegen die Wiederkehr von Ereignissen schützen könne, die alle Existenzen in Frage stellen, und bei dem günstigsten Ausgange eine Menge von Interessen compromittiren. So lange dasselbe beharrlich festgehalten wird, ist die Veränderung eines Verwaltungssystems nur eine Aenderung des Ministeriums; sobald es verlassen wird, ist sie eine Revolution, oder kann sie werden. Es ist daher nicht richtig, wenn man, wie in Deutschland fast durchweg geschieht, annimmt, daß es den Franzosen um Erniedrigung der königl. Macht zu thun, und daß der Kampf der liberalen Fractionen in den Kammern nichts Anderes, als eine allmähliche Unterwühlung des Bodens bezwecke, worauf der Thron steht, dessen Einsturz gewünscht werde. Im Gegentheil darf man glauben, daß es den Verständigen und allen, welche etwas zu verlieren haben, darum zu thun sey, den Thron dem Bereiche der politischen Bestrebungen und Zerwürfnisse, und der stets wiederkehrenden, das Wohl der Massen so nahe berührenden und darum so verhängnißvollen großen Verwaltungsfragen zu entrücken, und ihn dadurch auf ein Gebiet zu bringen, wo er nicht länger der Gegenstand der Anfeindungen ist, und von der Volksmeinung nicht mehr für die gouvernementalen Handlungen verantwortlich gemacht werden kann. Es ist das Beispiel von England, welches man in Frankreich gern verwirklicht wüßte; und wir, die wir an den Gränzen wohnen, und unseren Frieden und unsere Industrie von den gewaltsamen Erschütterungen im Nachbarlande so oft bedroht gesehen haben, wünschen aufrichtig, daß ein Zustand sich bilde, welcher den Uebergang von einem zu dem andern Regierungssystem an keine anderen Opfer, als einen Ministerwechsel knüpfe. Darum wünschten wir vor Jahr und Tag das Zustandekommen eines Ministeriums Thiers, weil wir dachten, daß der Sieg des erwähnten Princips darin ausgesprochen, und das Königthum selbst der parlamentarischen Dialektik, so wie dem zerrenden Eifer der Presse dadurch entzogen sey. Daß die Combination damals scheiterte, betrachtete man hier zu Lande als ein Unglück für die Dynastie, denn es schien in dem Gange der Unterhandlungen und im Schlußresultate ein so offenes Streben in der entgegengesetzten Richtung, so viel List und Absichtlichkeit zu liegen, daß man über den unvermeidlichen Eindruck im Volk sich nicht verblenden konnte. In dem Siege der königlichen Prärogative sahen darum viele Freunde der Ordnung eine beginnende Niederlage. Karl X würde nicht verjagt worden seyn, sagten sie, wenn die Krone sich nicht selbst für die Handlungen ihrer Minister verantwortlich gemacht hätte; und wenn dem Kaiser der Besitz und die Uebung der ungetheilten Macht von der Nation verziehen ward, so geschah es nur, weil sein blendender Ruhm und seine persönliche Gewalt, der nie gesehene Glanz, den er um Frankreich verbreitete, und der Wohlstand, den er schuf, ihn als ein höheres Wesen betrachten ließen, und das Siegel des Verstummens auf alle Lippen drückten. Gleiche Ansprüche hat der gegenwärtige Throninhaber nicht zu machen. Zwar kann nicht behauptet werden, daß unter der Herrschaft der Ministerien, deren wirklicher Lenker der König gewesen ist, irgend etwas Verfassungswidriges geschehen oder erstrebt worden sey; aber es ist auch nicht die That, welcher man begegnen will, sondern das Princip, welches zur That führt. Rechnen Sie dazu noch, daß man dem König eine überwiegende Vorliebe für seine dynastischen Interessen zutraut, und geneigt ist, in allen Fällen, wo die Stimme Frankreichs nicht sofort und ohne Widerrede im Rathe der Mächte prävalirt, zu vermuthen und auszusprechen, daß die Ehre und der Ruhm der Nation der Erhaltung des guten Vernehmens mit den fremden Monarchen aus persönlicher Condescendenz zum Opfer gebracht worden sey, so wird die Meinung nicht mehr befremden, daß die Verwirklichung der mehrerwähnten politischen Maxime noch mehr im Interesse des Königthums als in irgend einem andern liege. Wenn daher gefragt wird, wie man hier die Befestigung des neuen Ministeriums betrachte, so könnte man wieder sagen: als eine Bürgschaft der Ordnung und des Friedens, denn dieses Ministerium selbst ist die Verkörperung jenes Princips. Aber die Sache hat einen Beigeschmack gewonnen, den sie vor Jahr und Tag nicht gehabt haben würde, und deßhalb ist auch die Freude über die Entwickelung der Sache sehr getrübt. Man glaubt wohl, daß das neue Ministerium sich mehr und mehr befestigen, und von längerer Dauer, als eines der abgetretenen seyn werde; man erwartet davon einen festen Gang in der orientalischen Politik, und was uns weit mehr interessirt, eine regere Thätigkeit für die innere Entwickelung des großen Reichs durch Beförderung der großen Verkehrsmittel, Eisenbahnen und Canalbauten. Aber man besorgt auch, daß das Ministerium nicht unabhängig in seinen Richtungen sey, und daß, wie es genöthigt worden, sich mit der Linken zu verbinden, um Consistenz zu gewinnen, und den Freunden des Hofs und den Anhängern der gefallenen Notabilitäten zu widerstehen, so es auch Verbindlichkeiten, wenigstens moralische, eingegangen seyn möge, die Zwecke jener Fraction zu fördern. Auch die Unterstützung, welche der Führer der Legitimisten dem neuen Cabinet gewährt hat, zeigt, daß man es auf der Bahn der Fortschritte glaubt, und gerne darauf beflügeln möchte; darin halten die Tendenzen der Legitimisten und der Ultraliberalen gleichen Schritt: die einen treiben an, weil sie wirklich republicanische Institutionen, je nach der Entschiedenheit ihrer politischen Grundsätze, mit oder ohne Thron, begehren, die andern, weil sie der Meinung sind, daß nach Durchlaufen der verschiedenen Phasen Frankreich endlich doch wieder zur ältern Linie der Bourbons zurückgelangen werde, und daß diesem Ziele nicht rascher und sicherer zuzueilen sey, als indem man die unvermeidlichen Metamorphosen in den öffentlichen Zuständen beschleunige. Für die Bewohner der Gränzlande haben solche Betrachtungen etwas Besorgnißerweckendes. Wir haben noch nicht vergessen, daß Hr. Thiers den Traum von den natürlichen Gränzen mit eben so viel Liebe pflegt, wie alle andern Franzosen: es ist der Gedanke, mit dem man in Frankreich aufsteht, und sich niederlegt, der Gedanke, in dem sich alle Parteien verstehen, für den man Afrika aufgibt, und Rußland oder England die Entscheidung der orientalischen Frage ohne Bedenken abandonnirt. Ein Mann von dem Ehrgeize, dem Talente und der Entschiedenheit wie Hr. Thiers, ein Mann, der so große Erwartungen zu rechtfertigen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_107_18400416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_107_18400416/7
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 107. Augsburg, 16. April 1840, S. 0855. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_107_18400416/7>, abgerufen am 28.11.2024.