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Allgemeine Zeitung. Nr. 64. Augsburg, 4. März 1840.

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Hr. v. Genoude sagt, er stimme ganz mit den Ansichten Benjamin Constants und der Frau v. Stael überein. Da Frankreich ein von mächtigen Staaten umgebenes Land sey, so sey ihm eine starke Regierung, nämlich ein wahrhaftes Königthum und eine wahrhafte Volksrepräsentation nothwendig. Die Repräsentantenkammer müsse von allen Steuerpflichtigen ernannt, das Budget in ein ordentliches und in ein außerordentliches getrennt werden, wovon ersteres für immer bewilligt, letzteres aber der Prüfung und Genehmi ung der Deputirten alljährlich vorgelegt werden müsse. "Auf diese Weise, fügte Hr. v. Genoude bei, wird man ohne Revolution realisiren, was man 1789 wollte, mit allen Fortschritten der Ordnung und Freiheit, die seitdem in den Ideen entstanden" Hr. Laffitte äußerte hierauf unter Anderm: "Ich bin auch der Meinung, daß die Reform allein eine Revolution hindern könne, und habe mit Ihnen dieses Princip proclamirt, welches früher oder später triumphiren muß. Ich bin den Principien von 1789 ergeben. Ihr dachtet wohl, ich hätte unter der Restauration conspirirt, aber dieß ist falsch. Ich liebe die Revolutionen nicht, und laube, daß ich meinem Land einen großen Dienst leiste, wenn ich ihm eine friedliche Bahn, wie die Reform öffne. Man hat die Mittelclasse allein zur Macht gerufen; aber ganz allein ist die Mittelclasse unfähig zu regieren. Sie hat weder die Unabhängigkeit der großen Eigenthümer, noch die Hingebung des Volks. Glauben Sie nicht, daß ich nur die Nationalgardisten als Wähler wünschte; ich will keine Ausschließung, ich will alle Steuerpflichtigen." Beide einst so schroffe Gegner schieden, über ihr jetziges Einverständniß wohl selbst erstaunt, als ganz gute Freunde. (Sollte Laffitte wohl auch die Meinung theilen, das ordentliche Budget sollte für immer - für die ganze Regierungszeit eines Monarchen oder noch länger? - votirt werden?)

Lord Brougham ist in Cannes angekommen, wo er in einer der schönsten Gegenden der Provence ein prächtiges Schloß hat erbauen lassen. Dort will er jetzt einen Monat zubringen. Der edle Lord ist bei den dortigen Bewohnern sehr beliebt. Bei seiner Ankunft zog die Musik der Nationalgarde von Cannes ihm entgegen, und brachte ihm eine Serenade. Die Musiker wurden dann zu einem Banket geladen, wo man auf die Gesundheit des Lords und die Einigkeit zwischen Frankreich und England trank.

Die Zusammensetzung des Ministeriums, wie sie von Hrn. Thiers dem König vorgeschlagen ist, würde ersterem so ziemlich eine selbstständige Stellung sichern, daher glauben wenige, die vom Charakter Ludwig Philipps genauere Kenntniß haben, er werde darauf eingehen. Der Bescheid, den die Blätter dem König in den Mund legen, er wolle erst den Marschall Soult und Hrn. v. Broglie über diese Vorschläge hören, klingt einem constitutionellen Ohr seltsamlich. Was würden die englischen Blätter sagen auf die Nachricht: Victoria habe Hrn. Peel mit Zusammensetzung eines neuen Ministeriums beauftragt, und demselben nach Uebergebung seiner Liste den Bescheid gegeben, sie wolle erst noch Melbourne und Russell darüber sprechen? Viele, welche den Eintritt Thiers' ins Ministerium gern sähen, tadeln die Hast, womit derselbe auf die an ihn ergangene Einladung eingegangen sey. Sie sind der Meinung, man sey dort noch lange nicht auf den Punkt gelangt, um den Eintritt des Hrn. Thiers für unvermeidlich zu halten. Die Anhänger des Fortschreitens sind seit lange darüber einig, daß es gewaltiger Motive bedürfe, um das Beharrsystem zu Concessionen zu vermögen, und wie die Sachen jetzt ständen, werde man eher dem Hang zum Parlamentiren, als dem Entschluß, ein anderes System zu ergreifen, Raum geben. In dem Beschluß des abgedankten Ministeriums, nicht einzeln mit einem neuen Ministerium zu unterhandeln, wollen die Zweifler eine geheime Insinuation von Seite des Hofs wittern, daß man am Ende wieder auf sie zurückkommen werde. Inzwischen steigen die Besorgnisse der Freunde der Ordnung mehr und mehr. Die Nahrungslosigkeit unter den niedern Classen nimmt überhand; an Durchführung der großen Maaßregeln, die jetzt vor der Kammer liegen, ist, im Fall nicht ein kräftiges Ministerium zu Stande käme, nicht zu denken; alle Hoffnung auf Besserung verschwindet; die Unzufriedenheit der niedern Volksclassen und der mittleren Stände wächst mit jedem Tage, und die Sprache der Oppositionsjournale in den Provinzen sowohl als in der Hauptstadt wird immer drohender. Die Hofjournale selbst können diesen Stand der Dinge nicht in Abrede stellen.

Gewaltsam wird Premier Thiers geboren; es bedurfte eines Kaiserschnitts. Beide Kammern umstehen die gewaltigen Wehen. "Siehe da, ein Hercules in der Wiege, mit Zähnen!" Es fragt sich nur: soll nicht der Henne Publicum wieder ein Windei untergelegt werden? Guizot ist fort expedirt, Broglie hat resignirt, Mole ist dem Anschein nach gescheitert. Die Verbindung Thiers-Mole hat Odilon-Barrot nicht ratificiren wollen; also hat man dem Anschein nach den Platz vor Thiers rein gefegt: "nun stehe du, der Boden ist nivellirt, erhebe dein Piedestal!" - Thiers hat so viele Minister als man will, aus zweiter und dritter Hand; Cousin folgt ihm bis in den Tod. Will man das kleine Richelieuchen emporkeimen lassen? An Beweglichkeit fehlt es dazu dem Thiers nicht, auch nicht an Geist, Umschau, Unerwartetem; am allerwenigsten an Redseligkeit. Wie Napoleon in seiner Art ist Thiers auf andere Weise bereit, dem kleinen Bürger und der besitzenden Masse dritten Ranges im Volke weiß zu machen, daß er der wahre Ausdruck und Repräsentant der Gleichheit sey, ihr geborener Cäsar und Tribun, der den Bürger retten werde vor dem gemeinen Mann nach unten und vor allen Aristokratien nach oben, inbegriffen die der Doctrinärs und des Orleanischen Hofes. Wollen sehen! Thiers findet viele Gegner, aber noch mehr Leute, die ihn als eine große politische Curiosität, als ein Ferment eines möglichen Neuen betrachten, als ein Princip der Gährung und Auflösung. Sie hoffen aus der Routine des Bestehenden erhoben zu werden, da alle früheren Aussichten auf die Werke der Doctrinärs ein traurig Ende genommen haben. Die Doctrinärs können methodisiren, schematisiren und belehren, aber keinen Lebensodem einhauchen; in Thiers, meinen dieselben Leute, spuke ein geistreicher Kobold, vielleicht ein Irrwisch, aber es sey doch im morastigen Boden noch ein Lämpchen angezündet zur Wegeführung. Licht oder Irrlicht, er wird tausendzüngig begrüßt. Sollte dießmal sein Sieg noch einmal rückgängig werden, so kann man versichert seyn, daß die Bedeutung seiner Person und die Stütze, welche die Journalistik ihm gewährt, ihn immer höher heben wird, so daß am Ende doch der Triumph nicht ausbleibt, wie kurz er auch seyn möge.

Heute schienen alle im Conferenzsaale versammelten Deputirten überzeugt, daß das Cabinet Thiers, so wie es von dem Journal des Debats gegeben war, definitiv organisirt werden würde. Nach den uns zugekommenen Nachrichten aber sind die Sachen noch nicht so weit gediehen, und in keinem Fall könnte heute Etwas zu Ende kommen. Hr. Thiers hat sich heute nicht in das Schloß begeben, wie es geheißen hatte; er wird wahrscheinlich erst morgen dort empfangen werden, wenn die besprochene Combination die Beistimmung

Hr. v. Genoude sagt, er stimme ganz mit den Ansichten Benjamin Constants und der Frau v. Stael überein. Da Frankreich ein von mächtigen Staaten umgebenes Land sey, so sey ihm eine starke Regierung, nämlich ein wahrhaftes Königthum und eine wahrhafte Volksrepräsentation nothwendig. Die Repräsentantenkammer müsse von allen Steuerpflichtigen ernannt, das Budget in ein ordentliches und in ein außerordentliches getrennt werden, wovon ersteres für immer bewilligt, letzteres aber der Prüfung und Genehmi ung der Deputirten alljährlich vorgelegt werden müsse. „Auf diese Weise, fügte Hr. v. Genoude bei, wird man ohne Revolution realisiren, was man 1789 wollte, mit allen Fortschritten der Ordnung und Freiheit, die seitdem in den Ideen entstanden“ Hr. Laffitte äußerte hierauf unter Anderm: „Ich bin auch der Meinung, daß die Reform allein eine Revolution hindern könne, und habe mit Ihnen dieses Princip proclamirt, welches früher oder später triumphiren muß. Ich bin den Principien von 1789 ergeben. Ihr dachtet wohl, ich hätte unter der Restauration conspirirt, aber dieß ist falsch. Ich liebe die Revolutionen nicht, und laube, daß ich meinem Land einen großen Dienst leiste, wenn ich ihm eine friedliche Bahn, wie die Reform öffne. Man hat die Mittelclasse allein zur Macht gerufen; aber ganz allein ist die Mittelclasse unfähig zu regieren. Sie hat weder die Unabhängigkeit der großen Eigenthümer, noch die Hingebung des Volks. Glauben Sie nicht, daß ich nur die Nationalgardisten als Wähler wünschte; ich will keine Ausschließung, ich will alle Steuerpflichtigen.“ Beide einst so schroffe Gegner schieden, über ihr jetziges Einverständniß wohl selbst erstaunt, als ganz gute Freunde. (Sollte Laffitte wohl auch die Meinung theilen, das ordentliche Budget sollte für immer – für die ganze Regierungszeit eines Monarchen oder noch länger? – votirt werden?)

Lord Brougham ist in Cannes angekommen, wo er in einer der schönsten Gegenden der Provence ein prächtiges Schloß hat erbauen lassen. Dort will er jetzt einen Monat zubringen. Der edle Lord ist bei den dortigen Bewohnern sehr beliebt. Bei seiner Ankunft zog die Musik der Nationalgarde von Cannes ihm entgegen, und brachte ihm eine Serenade. Die Musiker wurden dann zu einem Banket geladen, wo man auf die Gesundheit des Lords und die Einigkeit zwischen Frankreich und England trank.

Die Zusammensetzung des Ministeriums, wie sie von Hrn. Thiers dem König vorgeschlagen ist, würde ersterem so ziemlich eine selbstständige Stellung sichern, daher glauben wenige, die vom Charakter Ludwig Philipps genauere Kenntniß haben, er werde darauf eingehen. Der Bescheid, den die Blätter dem König in den Mund legen, er wolle erst den Marschall Soult und Hrn. v. Broglie über diese Vorschläge hören, klingt einem constitutionellen Ohr seltsamlich. Was würden die englischen Blätter sagen auf die Nachricht: Victoria habe Hrn. Peel mit Zusammensetzung eines neuen Ministeriums beauftragt, und demselben nach Uebergebung seiner Liste den Bescheid gegeben, sie wolle erst noch Melbourne und Russell darüber sprechen? Viele, welche den Eintritt Thiers' ins Ministerium gern sähen, tadeln die Hast, womit derselbe auf die an ihn ergangene Einladung eingegangen sey. Sie sind der Meinung, man sey dort noch lange nicht auf den Punkt gelangt, um den Eintritt des Hrn. Thiers für unvermeidlich zu halten. Die Anhänger des Fortschreitens sind seit lange darüber einig, daß es gewaltiger Motive bedürfe, um das Beharrsystem zu Concessionen zu vermögen, und wie die Sachen jetzt ständen, werde man eher dem Hang zum Parlamentiren, als dem Entschluß, ein anderes System zu ergreifen, Raum geben. In dem Beschluß des abgedankten Ministeriums, nicht einzeln mit einem neuen Ministerium zu unterhandeln, wollen die Zweifler eine geheime Insinuation von Seite des Hofs wittern, daß man am Ende wieder auf sie zurückkommen werde. Inzwischen steigen die Besorgnisse der Freunde der Ordnung mehr und mehr. Die Nahrungslosigkeit unter den niedern Classen nimmt überhand; an Durchführung der großen Maaßregeln, die jetzt vor der Kammer liegen, ist, im Fall nicht ein kräftiges Ministerium zu Stande käme, nicht zu denken; alle Hoffnung auf Besserung verschwindet; die Unzufriedenheit der niedern Volksclassen und der mittleren Stände wächst mit jedem Tage, und die Sprache der Oppositionsjournale in den Provinzen sowohl als in der Hauptstadt wird immer drohender. Die Hofjournale selbst können diesen Stand der Dinge nicht in Abrede stellen.

Gewaltsam wird Premier Thiers geboren; es bedurfte eines Kaiserschnitts. Beide Kammern umstehen die gewaltigen Wehen. „Siehe da, ein Hercules in der Wiege, mit Zähnen!“ Es fragt sich nur: soll nicht der Henne Publicum wieder ein Windei untergelegt werden? Guizot ist fort expedirt, Broglie hat resignirt, Molé ist dem Anschein nach gescheitert. Die Verbindung Thiers-Molé hat Odilon-Barrot nicht ratificiren wollen; also hat man dem Anschein nach den Platz vor Thiers rein gefegt: „nun stehe du, der Boden ist nivellirt, erhebe dein Piedestal!“ – Thiers hat so viele Minister als man will, aus zweiter und dritter Hand; Cousin folgt ihm bis in den Tod. Will man das kleine Richelieuchen emporkeimen lassen? An Beweglichkeit fehlt es dazu dem Thiers nicht, auch nicht an Geist, Umschau, Unerwartetem; am allerwenigsten an Redseligkeit. Wie Napoleon in seiner Art ist Thiers auf andere Weise bereit, dem kleinen Bürger und der besitzenden Masse dritten Ranges im Volke weiß zu machen, daß er der wahre Ausdruck und Repräsentant der Gleichheit sey, ihr geborener Cäsar und Tribun, der den Bürger retten werde vor dem gemeinen Mann nach unten und vor allen Aristokratien nach oben, inbegriffen die der Doctrinärs und des Orleanischen Hofes. Wollen sehen! Thiers findet viele Gegner, aber noch mehr Leute, die ihn als eine große politische Curiosität, als ein Ferment eines möglichen Neuen betrachten, als ein Princip der Gährung und Auflösung. Sie hoffen aus der Routine des Bestehenden erhoben zu werden, da alle früheren Aussichten auf die Werke der Doctrinärs ein traurig Ende genommen haben. Die Doctrinärs können methodisiren, schematisiren und belehren, aber keinen Lebensodem einhauchen; in Thiers, meinen dieselben Leute, spuke ein geistreicher Kobold, vielleicht ein Irrwisch, aber es sey doch im morastigen Boden noch ein Lämpchen angezündet zur Wegeführung. Licht oder Irrlicht, er wird tausendzüngig begrüßt. Sollte dießmal sein Sieg noch einmal rückgängig werden, so kann man versichert seyn, daß die Bedeutung seiner Person und die Stütze, welche die Journalistik ihm gewährt, ihn immer höher heben wird, so daß am Ende doch der Triumph nicht ausbleibt, wie kurz er auch seyn möge.

Heute schienen alle im Conferenzsaale versammelten Deputirten überzeugt, daß das Cabinet Thiers, so wie es von dem Journal des Débats gegeben war, definitiv organisirt werden würde. Nach den uns zugekommenen Nachrichten aber sind die Sachen noch nicht so weit gediehen, und in keinem Fall könnte heute Etwas zu Ende kommen. Hr. Thiers hat sich heute nicht in das Schloß begeben, wie es geheißen hatte; er wird wahrscheinlich erst morgen dort empfangen werden, wenn die besprochene Combination die Beistimmung

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Hr. v. Genoude sagt, er stimme ganz mit den Ansichten Benjamin Constants und der Frau v. Stael überein. Da Frankreich ein von mächtigen Staaten umgebenes Land sey, so sey ihm eine starke Regierung, nämlich ein wahrhaftes Königthum und eine wahrhafte Volksrepräsentation nothwendig. Die Repräsentantenkammer müsse von allen Steuerpflichtigen ernannt, das Budget in ein ordentliches und in ein außerordentliches getrennt werden, wovon ersteres für immer bewilligt, letzteres aber der Prüfung und Genehmi ung der Deputirten alljährlich vorgelegt werden müsse. &#x201E;Auf diese Weise, fügte Hr. v. Genoude bei, wird man ohne Revolution realisiren, was man 1789 wollte, mit allen Fortschritten der Ordnung und Freiheit, die seitdem in den Ideen entstanden&#x201C; Hr. Laffitte äußerte hierauf unter Anderm: &#x201E;Ich bin auch der Meinung, daß die Reform allein eine Revolution hindern könne, und habe mit Ihnen dieses Princip proclamirt, welches früher oder später triumphiren muß. Ich bin den Principien von 1789 ergeben. Ihr dachtet wohl, ich hätte unter der Restauration conspirirt, aber dieß ist falsch. Ich liebe die Revolutionen nicht, und laube, daß ich meinem Land einen großen Dienst leiste, wenn ich ihm eine friedliche Bahn, wie die Reform öffne. Man hat die Mittelclasse allein zur Macht gerufen; aber ganz allein ist die Mittelclasse unfähig zu regieren. Sie hat weder die Unabhängigkeit der großen Eigenthümer, noch die Hingebung des Volks. Glauben Sie nicht, daß ich nur die Nationalgardisten als Wähler wünschte; ich will keine Ausschließung, ich will alle Steuerpflichtigen.&#x201C; Beide einst so schroffe Gegner schieden, über ihr jetziges Einverständniß wohl selbst erstaunt, als ganz gute Freunde. (Sollte Laffitte wohl auch die Meinung theilen, das ordentliche Budget sollte für immer &#x2013; für die ganze Regierungszeit eines Monarchen oder noch länger? &#x2013; votirt werden?)</p><lb/>
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[0508/0004] Hr. v. Genoude sagt, er stimme ganz mit den Ansichten Benjamin Constants und der Frau v. Stael überein. Da Frankreich ein von mächtigen Staaten umgebenes Land sey, so sey ihm eine starke Regierung, nämlich ein wahrhaftes Königthum und eine wahrhafte Volksrepräsentation nothwendig. Die Repräsentantenkammer müsse von allen Steuerpflichtigen ernannt, das Budget in ein ordentliches und in ein außerordentliches getrennt werden, wovon ersteres für immer bewilligt, letzteres aber der Prüfung und Genehmi ung der Deputirten alljährlich vorgelegt werden müsse. „Auf diese Weise, fügte Hr. v. Genoude bei, wird man ohne Revolution realisiren, was man 1789 wollte, mit allen Fortschritten der Ordnung und Freiheit, die seitdem in den Ideen entstanden“ Hr. Laffitte äußerte hierauf unter Anderm: „Ich bin auch der Meinung, daß die Reform allein eine Revolution hindern könne, und habe mit Ihnen dieses Princip proclamirt, welches früher oder später triumphiren muß. Ich bin den Principien von 1789 ergeben. Ihr dachtet wohl, ich hätte unter der Restauration conspirirt, aber dieß ist falsch. Ich liebe die Revolutionen nicht, und laube, daß ich meinem Land einen großen Dienst leiste, wenn ich ihm eine friedliche Bahn, wie die Reform öffne. Man hat die Mittelclasse allein zur Macht gerufen; aber ganz allein ist die Mittelclasse unfähig zu regieren. Sie hat weder die Unabhängigkeit der großen Eigenthümer, noch die Hingebung des Volks. Glauben Sie nicht, daß ich nur die Nationalgardisten als Wähler wünschte; ich will keine Ausschließung, ich will alle Steuerpflichtigen.“ Beide einst so schroffe Gegner schieden, über ihr jetziges Einverständniß wohl selbst erstaunt, als ganz gute Freunde. (Sollte Laffitte wohl auch die Meinung theilen, das ordentliche Budget sollte für immer – für die ganze Regierungszeit eines Monarchen oder noch länger? – votirt werden?) Lord Brougham ist in Cannes angekommen, wo er in einer der schönsten Gegenden der Provence ein prächtiges Schloß hat erbauen lassen. Dort will er jetzt einen Monat zubringen. Der edle Lord ist bei den dortigen Bewohnern sehr beliebt. Bei seiner Ankunft zog die Musik der Nationalgarde von Cannes ihm entgegen, und brachte ihm eine Serenade. Die Musiker wurden dann zu einem Banket geladen, wo man auf die Gesundheit des Lords und die Einigkeit zwischen Frankreich und England trank. _ Paris, 28 Febr. Die Zusammensetzung des Ministeriums, wie sie von Hrn. Thiers dem König vorgeschlagen ist, würde ersterem so ziemlich eine selbstständige Stellung sichern, daher glauben wenige, die vom Charakter Ludwig Philipps genauere Kenntniß haben, er werde darauf eingehen. Der Bescheid, den die Blätter dem König in den Mund legen, er wolle erst den Marschall Soult und Hrn. v. Broglie über diese Vorschläge hören, klingt einem constitutionellen Ohr seltsamlich. Was würden die englischen Blätter sagen auf die Nachricht: Victoria habe Hrn. Peel mit Zusammensetzung eines neuen Ministeriums beauftragt, und demselben nach Uebergebung seiner Liste den Bescheid gegeben, sie wolle erst noch Melbourne und Russell darüber sprechen? Viele, welche den Eintritt Thiers' ins Ministerium gern sähen, tadeln die Hast, womit derselbe auf die an ihn ergangene Einladung eingegangen sey. Sie sind der Meinung, man sey dort noch lange nicht auf den Punkt gelangt, um den Eintritt des Hrn. Thiers für unvermeidlich zu halten. Die Anhänger des Fortschreitens sind seit lange darüber einig, daß es gewaltiger Motive bedürfe, um das Beharrsystem zu Concessionen zu vermögen, und wie die Sachen jetzt ständen, werde man eher dem Hang zum Parlamentiren, als dem Entschluß, ein anderes System zu ergreifen, Raum geben. In dem Beschluß des abgedankten Ministeriums, nicht einzeln mit einem neuen Ministerium zu unterhandeln, wollen die Zweifler eine geheime Insinuation von Seite des Hofs wittern, daß man am Ende wieder auf sie zurückkommen werde. Inzwischen steigen die Besorgnisse der Freunde der Ordnung mehr und mehr. Die Nahrungslosigkeit unter den niedern Classen nimmt überhand; an Durchführung der großen Maaßregeln, die jetzt vor der Kammer liegen, ist, im Fall nicht ein kräftiges Ministerium zu Stande käme, nicht zu denken; alle Hoffnung auf Besserung verschwindet; die Unzufriedenheit der niedern Volksclassen und der mittleren Stände wächst mit jedem Tage, und die Sprache der Oppositionsjournale in den Provinzen sowohl als in der Hauptstadt wird immer drohender. Die Hofjournale selbst können diesen Stand der Dinge nicht in Abrede stellen. _ Paris, 28 Febr. Gewaltsam wird Premier Thiers geboren; es bedurfte eines Kaiserschnitts. Beide Kammern umstehen die gewaltigen Wehen. „Siehe da, ein Hercules in der Wiege, mit Zähnen!“ Es fragt sich nur: soll nicht der Henne Publicum wieder ein Windei untergelegt werden? Guizot ist fort expedirt, Broglie hat resignirt, Molé ist dem Anschein nach gescheitert. Die Verbindung Thiers-Molé hat Odilon-Barrot nicht ratificiren wollen; also hat man dem Anschein nach den Platz vor Thiers rein gefegt: „nun stehe du, der Boden ist nivellirt, erhebe dein Piedestal!“ – Thiers hat so viele Minister als man will, aus zweiter und dritter Hand; Cousin folgt ihm bis in den Tod. Will man das kleine Richelieuchen emporkeimen lassen? An Beweglichkeit fehlt es dazu dem Thiers nicht, auch nicht an Geist, Umschau, Unerwartetem; am allerwenigsten an Redseligkeit. Wie Napoleon in seiner Art ist Thiers auf andere Weise bereit, dem kleinen Bürger und der besitzenden Masse dritten Ranges im Volke weiß zu machen, daß er der wahre Ausdruck und Repräsentant der Gleichheit sey, ihr geborener Cäsar und Tribun, der den Bürger retten werde vor dem gemeinen Mann nach unten und vor allen Aristokratien nach oben, inbegriffen die der Doctrinärs und des Orleanischen Hofes. Wollen sehen! Thiers findet viele Gegner, aber noch mehr Leute, die ihn als eine große politische Curiosität, als ein Ferment eines möglichen Neuen betrachten, als ein Princip der Gährung und Auflösung. Sie hoffen aus der Routine des Bestehenden erhoben zu werden, da alle früheren Aussichten auf die Werke der Doctrinärs ein traurig Ende genommen haben. Die Doctrinärs können methodisiren, schematisiren und belehren, aber keinen Lebensodem einhauchen; in Thiers, meinen dieselben Leute, spuke ein geistreicher Kobold, vielleicht ein Irrwisch, aber es sey doch im morastigen Boden noch ein Lämpchen angezündet zur Wegeführung. Licht oder Irrlicht, er wird tausendzüngig begrüßt. Sollte dießmal sein Sieg noch einmal rückgängig werden, so kann man versichert seyn, daß die Bedeutung seiner Person und die Stütze, welche die Journalistik ihm gewährt, ihn immer höher heben wird, so daß am Ende doch der Triumph nicht ausbleibt, wie kurz er auch seyn möge. _ Paris, 28 Febr. Heute schienen alle im Conferenzsaale versammelten Deputirten überzeugt, daß das Cabinet Thiers, so wie es von dem Journal des Débats gegeben war, definitiv organisirt werden würde. Nach den uns zugekommenen Nachrichten aber sind die Sachen noch nicht so weit gediehen, und in keinem Fall könnte heute Etwas zu Ende kommen. Hr. 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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 64. Augsburg, 4. März 1840, S. 0508. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_064_18400304/4>, abgerufen am 22.11.2024.