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Allgemeine Zeitung. Nr. 11. Augsburg, 11. Januar 1840.

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allein Handelsleute, wie in Europa, sondern nehmen im Ganzen eine in mancher Rücksicht mehr geachtete Stellung ein. Wie die Armenier die Financiers und Bankiers der Türken sind, die Griechen ihre Secretäre und Dragomane, so sind die Juden hauptsächlich im Besitz der Zölle. Sie haben nicht jenen europäischen Schacherjudencharakter, weil sie unter dem rohen unwissenden Volk der Türken nothwendig eine geistig höhere Stellung behaupten. Auch sie werden, je mehr der Sultan europäische Cultur einführt, desto mehr ihrer Nationalität sich erinnern und desto mehr sich aus dem Gemisch der Bevölkerung der Türkei als eine besondere Nation ausscheiden, deren Einheit anfangs in der Idee bestehen, bald aber vielleicht auch räumlich sich darstellen wird. Es gibt schon unter ihnen selbst und unter den Christen manchen, der eine Erneuerung des jüdischen Reichs in Palästina in nicht ferne Aussicht stellt. Auch diese erwarten vom Jahr 1840 Außerordentliches. Jedenfalls wäre billig, daß man bei Regulirung der orientalischen Angelegenheiten, welche den Christen in der Türkei neue Garantien geben muß, sich auch der Juden erinnere und kräftig annehme.

Außer diesen Fremden besteht die Bevölkerung des türkischen Reichs hauptsächlich in Mohammedanern, die sich in Türken und Araber theilen. Die herrschende Nation unter diesen ist aber durchaus die türkische. Mehemed Ali und sein Gouvernement und die Officiere seiner Armee, mit geringen Ausnahmen, sind Türken. Die Araber in Aegypten und Syrien sind vielleicht in einem elenderen Zustande der Unterwürfigkeit, als die Christen bisher in der Türkei waren; allein ihr Haupt ist mit dem Haupt der Türken und mit der Türkei entzweit, und tritt dadurch in ein engeres Verhältniß zu den Arabern, und wie sehr auch das Volk in Knechtschaft gehalten wird, dennoch ist die wahre Bedeutung des Kampfes zwischen dem Pascha und dem Sultan die, die arabische Nation aus dem Reich der Türken auszuscheiden. Das ist überhaupt der Charakter der Auflösung des türkischen Reichs, daß die großen nationalen Individualitäten sich ihrer selbst bewußt werden, sich constituiren und sich aus dem haltlos gewordenen Gemisch aussondern. Die Türken haben das geistige und moralische Uebergewicht über ihre Unterthanen, die nichttürkischen, verloren, und werden es nie wieder gewinnen. Was immer der Sultan thue, mag er fortfahren auf seinem Wege der Reformen, oder mag eine Reaction eintreten, beides muß jene nichttürkischen Völkerschaften immer mehr zum Selbstbewußtseyn bringen, und wie sie schon längst vorzugsweise das geistige Element in diesem faulen Körper waren, so werden sie je länger desto mehr durch geistige Ueberlegenheit über ihre Herrscher sich erheben. Wie früher die kleinen nördlichen Staaten, wie dann Griechenland, wie gegenwärtig die arabische Nation sich ab- und aussondert, so werden wir noch andere Beispiele des "Unmöglichen" sehen, daß untergegangene Nationen wieder aufleben. Nämlich, sie waren nicht untergegangen, sie schliefen nur, und jetzt erwachen sie; sie waren eingesperrt, und jetzt kommen sie hervor aus ihrem Kerker. Der Sultan selbst, zu seiner eigenen Rettung - und dennoch zum Untergang seines Reichs - muß ihnen die verriegelten Pforten öffnen. Seine letzte merkwürdige Proclamation der "Menschenrechte" beweist es. Ja, um sich und sein Reich zu retten, muß er nicht nur das mohammedanische Reich, sondern auch die mohammedanische Religion zerstören. So hat es eine allmächtige Hand geleitet. Die Erhaltung des Mohammedanismus zerstört das Reich Mohammeds; die Erhaltung des Reichs zerstört den Mohammedanismus. Es ist aber keine Wahl zwischen beiden: denn das Reich und die Religion Mohammeds sind, Eins. Europäische Bildung, europäische Gesetze und Sitte in der Türkei einführen, heißt Christenthum einführen und Heil dem Propheten, hat er seinen Koran so eingerichtet, daß sein Nachfolger daraus, wie er angefangen, die Einführung des Christenthums rechtfertigen kann. Christen müssen die Mohammedaner werden, sey es durch Uebertritt, sey es ohne diesen, durch die Macht des Geistes. Das sey hingestellt nicht als eine Prophezeiung zum Trost frommen Glaubens, sondern als Resultat aus offen liegenden Ursachen.

Was heißt nun, das Reich des Sultans in seiner Integrität erhalten? Es kann nur heißen, daß keine der contrahirenden Mächte ein Theilchen des zerfallenden Reichs erwerben soll. Was im Innern aus diesem Reich werde, das müssen auch sie der Nothwendigkeit, welche die Vernunft Gottes ist, überlassen. Vielleicht, wenn der Muselmann christlich wird, daß auch ein verjüngtes Türkenreich aus jenem Gemisch sich aussondert, ein christlich gewordenes, auf die Nation beschränktes. Wenn nicht, so kann heute keine christliche Macht unter dem Vorwand der Legitimität das Christenthum verrathen, um dasselbe, wo es sich befreien will, unter die antichristliche Barbarei zurückzuzwängen. Hellas aber möge auf seiner Hut seyn, daß sein Christenthum nicht zu einer kümmerlich beschränkten sogenannten Orthodoxie zusammenschrumpfe, und somit unfähig werde, diejenigen Griechen zu fassen, welche außerhalb oder innerhalb des Königreichs lebend in ihrer Religion wohl gegen ihre türkischen Unterdrücker eine Wehr und Waffe hatten und haben, aber nicht gegen ihre Brüder und christlichen Befreier. Soll, während der Mohammedanismus christlich frei wird, das Christenthum mohammedanisirt werden?

Der Kaukasus und seine Bewohner.

(Beschluß.)

Die südlich des Kaukasus und längs des südöstlichen Ufers des schwarzen Meeres wohnenden Georgier oder Grusier, das heißt die Bewohner der Gegenden um den Kurfluß, von den Alten und den benachbarten Armeniern Iberer oder Wirk genannt, wozu wir auch die Lasen, Suanier, Tsanier oder Sanier rechnen, zerfallen nach den verschiedenen, mehr oder weniger unter sich abweichenden Dialekten, die sie sprechen, in vier Stämme oder Zweige. Die Lesgier, Bewohner des fruchtreichen, längs dem westlichen Gestade des kaspischen Meeres sich hineinziehenden Alpenlandes Dagestan oder des alten Albaniens - die Lesgier sind wohl selbst großentheils die Nachkommen der ehemaligen Albanier oder asiatischen Alanen - können ebenfalls am füglichsten nach ihren verschiedenen Sprachen oder Dialekten in vier Stämme abgetheilt werden. Nach andern Angaben zerfiele die lesgische Sprache in acht Dialekte, die so sehr von einander abweichen, daß man sie für besondere Sprachen halten möchte. Die Iranier oder Arier - so nennen sich die innerhalb des hohen kaukasischen Gebirges und um die Quellen des Terek wohnenden Os oder Osseten - gehören, vermöge des Idioms das sie in verschiedenen Dialekten sprechen, zur medopersischen Sprachfamilie. Sie sind wahrscheinlich ein Rest der germanischen Alanen, wie sie auch nicht selten genannt werden, und sollen nach einer neuen, wie es scheint, zuverlässigen Schätzung sich kaum auf vierzigtausend Seelen belaufen. Unter den Kistiern oder Mizdschegiern, den Bewohnern der Alpengebirge im nördlichen Kaukasus, die von der kleinen Kabardah und der Sundschah begränzt


allein Handelsleute, wie in Europa, sondern nehmen im Ganzen eine in mancher Rücksicht mehr geachtete Stellung ein. Wie die Armenier die Financiers und Bankiers der Türken sind, die Griechen ihre Secretäre und Dragomane, so sind die Juden hauptsächlich im Besitz der Zölle. Sie haben nicht jenen europäischen Schacherjudencharakter, weil sie unter dem rohen unwissenden Volk der Türken nothwendig eine geistig höhere Stellung behaupten. Auch sie werden, je mehr der Sultan europäische Cultur einführt, desto mehr ihrer Nationalität sich erinnern und desto mehr sich aus dem Gemisch der Bevölkerung der Türkei als eine besondere Nation ausscheiden, deren Einheit anfangs in der Idee bestehen, bald aber vielleicht auch räumlich sich darstellen wird. Es gibt schon unter ihnen selbst und unter den Christen manchen, der eine Erneuerung des jüdischen Reichs in Palästina in nicht ferne Aussicht stellt. Auch diese erwarten vom Jahr 1840 Außerordentliches. Jedenfalls wäre billig, daß man bei Regulirung der orientalischen Angelegenheiten, welche den Christen in der Türkei neue Garantien geben muß, sich auch der Juden erinnere und kräftig annehme.

Außer diesen Fremden besteht die Bevölkerung des türkischen Reichs hauptsächlich in Mohammedanern, die sich in Türken und Araber theilen. Die herrschende Nation unter diesen ist aber durchaus die türkische. Mehemed Ali und sein Gouvernement und die Officiere seiner Armee, mit geringen Ausnahmen, sind Türken. Die Araber in Aegypten und Syrien sind vielleicht in einem elenderen Zustande der Unterwürfigkeit, als die Christen bisher in der Türkei waren; allein ihr Haupt ist mit dem Haupt der Türken und mit der Türkei entzweit, und tritt dadurch in ein engeres Verhältniß zu den Arabern, und wie sehr auch das Volk in Knechtschaft gehalten wird, dennoch ist die wahre Bedeutung des Kampfes zwischen dem Pascha und dem Sultan die, die arabische Nation aus dem Reich der Türken auszuscheiden. Das ist überhaupt der Charakter der Auflösung des türkischen Reichs, daß die großen nationalen Individualitäten sich ihrer selbst bewußt werden, sich constituiren und sich aus dem haltlos gewordenen Gemisch aussondern. Die Türken haben das geistige und moralische Uebergewicht über ihre Unterthanen, die nichttürkischen, verloren, und werden es nie wieder gewinnen. Was immer der Sultan thue, mag er fortfahren auf seinem Wege der Reformen, oder mag eine Reaction eintreten, beides muß jene nichttürkischen Völkerschaften immer mehr zum Selbstbewußtseyn bringen, und wie sie schon längst vorzugsweise das geistige Element in diesem faulen Körper waren, so werden sie je länger desto mehr durch geistige Ueberlegenheit über ihre Herrscher sich erheben. Wie früher die kleinen nördlichen Staaten, wie dann Griechenland, wie gegenwärtig die arabische Nation sich ab- und aussondert, so werden wir noch andere Beispiele des „Unmöglichen“ sehen, daß untergegangene Nationen wieder aufleben. Nämlich, sie waren nicht untergegangen, sie schliefen nur, und jetzt erwachen sie; sie waren eingesperrt, und jetzt kommen sie hervor aus ihrem Kerker. Der Sultan selbst, zu seiner eigenen Rettung – und dennoch zum Untergang seines Reichs – muß ihnen die verriegelten Pforten öffnen. Seine letzte merkwürdige Proclamation der „Menschenrechte“ beweist es. Ja, um sich und sein Reich zu retten, muß er nicht nur das mohammedanische Reich, sondern auch die mohammedanische Religion zerstören. So hat es eine allmächtige Hand geleitet. Die Erhaltung des Mohammedanismus zerstört das Reich Mohammeds; die Erhaltung des Reichs zerstört den Mohammedanismus. Es ist aber keine Wahl zwischen beiden: denn das Reich und die Religion Mohammeds sind, Eins. Europäische Bildung, europäische Gesetze und Sitte in der Türkei einführen, heißt Christenthum einführen und Heil dem Propheten, hat er seinen Koran so eingerichtet, daß sein Nachfolger daraus, wie er angefangen, die Einführung des Christenthums rechtfertigen kann. Christen müssen die Mohammedaner werden, sey es durch Uebertritt, sey es ohne diesen, durch die Macht des Geistes. Das sey hingestellt nicht als eine Prophezeiung zum Trost frommen Glaubens, sondern als Resultat aus offen liegenden Ursachen.

Was heißt nun, das Reich des Sultans in seiner Integrität erhalten? Es kann nur heißen, daß keine der contrahirenden Mächte ein Theilchen des zerfallenden Reichs erwerben soll. Was im Innern aus diesem Reich werde, das müssen auch sie der Nothwendigkeit, welche die Vernunft Gottes ist, überlassen. Vielleicht, wenn der Muselmann christlich wird, daß auch ein verjüngtes Türkenreich aus jenem Gemisch sich aussondert, ein christlich gewordenes, auf die Nation beschränktes. Wenn nicht, so kann heute keine christliche Macht unter dem Vorwand der Legitimität das Christenthum verrathen, um dasselbe, wo es sich befreien will, unter die antichristliche Barbarei zurückzuzwängen. Hellas aber möge auf seiner Hut seyn, daß sein Christenthum nicht zu einer kümmerlich beschränkten sogenannten Orthodoxie zusammenschrumpfe, und somit unfähig werde, diejenigen Griechen zu fassen, welche außerhalb oder innerhalb des Königreichs lebend in ihrer Religion wohl gegen ihre türkischen Unterdrücker eine Wehr und Waffe hatten und haben, aber nicht gegen ihre Brüder und christlichen Befreier. Soll, während der Mohammedanismus christlich frei wird, das Christenthum mohammedanisirt werden?

Der Kaukasus und seine Bewohner.

(Beschluß.)

Die südlich des Kaukasus und längs des südöstlichen Ufers des schwarzen Meeres wohnenden Georgier oder Grusier, das heißt die Bewohner der Gegenden um den Kurfluß, von den Alten und den benachbarten Armeniern Iberer oder Wirk genannt, wozu wir auch die Lasen, Suanier, Tsanier oder Sanier rechnen, zerfallen nach den verschiedenen, mehr oder weniger unter sich abweichenden Dialekten, die sie sprechen, in vier Stämme oder Zweige. Die Lesgier, Bewohner des fruchtreichen, längs dem westlichen Gestade des kaspischen Meeres sich hineinziehenden Alpenlandes Dagestan oder des alten Albaniens – die Lesgier sind wohl selbst großentheils die Nachkommen der ehemaligen Albanier oder asiatischen Alanen – können ebenfalls am füglichsten nach ihren verschiedenen Sprachen oder Dialekten in vier Stämme abgetheilt werden. Nach andern Angaben zerfiele die lesgische Sprache in acht Dialekte, die so sehr von einander abweichen, daß man sie für besondere Sprachen halten möchte. Die Iranier oder Arier – so nennen sich die innerhalb des hohen kaukasischen Gebirges und um die Quellen des Terek wohnenden Os oder Osseten – gehören, vermöge des Idioms das sie in verschiedenen Dialekten sprechen, zur medopersischen Sprachfamilie. Sie sind wahrscheinlich ein Rest der germanischen Alanen, wie sie auch nicht selten genannt werden, und sollen nach einer neuen, wie es scheint, zuverlässigen Schätzung sich kaum auf vierzigtausend Seelen belaufen. Unter den Kistiern oder Mizdschegiern, den Bewohnern der Alpengebirge im nördlichen Kaukasus, die von der kleinen Kabardah und der Sundschah begränzt

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[0082/0010] allein Handelsleute, wie in Europa, sondern nehmen im Ganzen eine in mancher Rücksicht mehr geachtete Stellung ein. Wie die Armenier die Financiers und Bankiers der Türken sind, die Griechen ihre Secretäre und Dragomane, so sind die Juden hauptsächlich im Besitz der Zölle. Sie haben nicht jenen europäischen Schacherjudencharakter, weil sie unter dem rohen unwissenden Volk der Türken nothwendig eine geistig höhere Stellung behaupten. Auch sie werden, je mehr der Sultan europäische Cultur einführt, desto mehr ihrer Nationalität sich erinnern und desto mehr sich aus dem Gemisch der Bevölkerung der Türkei als eine besondere Nation ausscheiden, deren Einheit anfangs in der Idee bestehen, bald aber vielleicht auch räumlich sich darstellen wird. Es gibt schon unter ihnen selbst und unter den Christen manchen, der eine Erneuerung des jüdischen Reichs in Palästina in nicht ferne Aussicht stellt. Auch diese erwarten vom Jahr 1840 Außerordentliches. Jedenfalls wäre billig, daß man bei Regulirung der orientalischen Angelegenheiten, welche den Christen in der Türkei neue Garantien geben muß, sich auch der Juden erinnere und kräftig annehme. Außer diesen Fremden besteht die Bevölkerung des türkischen Reichs hauptsächlich in Mohammedanern, die sich in Türken und Araber theilen. Die herrschende Nation unter diesen ist aber durchaus die türkische. Mehemed Ali und sein Gouvernement und die Officiere seiner Armee, mit geringen Ausnahmen, sind Türken. Die Araber in Aegypten und Syrien sind vielleicht in einem elenderen Zustande der Unterwürfigkeit, als die Christen bisher in der Türkei waren; allein ihr Haupt ist mit dem Haupt der Türken und mit der Türkei entzweit, und tritt dadurch in ein engeres Verhältniß zu den Arabern, und wie sehr auch das Volk in Knechtschaft gehalten wird, dennoch ist die wahre Bedeutung des Kampfes zwischen dem Pascha und dem Sultan die, die arabische Nation aus dem Reich der Türken auszuscheiden. Das ist überhaupt der Charakter der Auflösung des türkischen Reichs, daß die großen nationalen Individualitäten sich ihrer selbst bewußt werden, sich constituiren und sich aus dem haltlos gewordenen Gemisch aussondern. Die Türken haben das geistige und moralische Uebergewicht über ihre Unterthanen, die nichttürkischen, verloren, und werden es nie wieder gewinnen. Was immer der Sultan thue, mag er fortfahren auf seinem Wege der Reformen, oder mag eine Reaction eintreten, beides muß jene nichttürkischen Völkerschaften immer mehr zum Selbstbewußtseyn bringen, und wie sie schon längst vorzugsweise das geistige Element in diesem faulen Körper waren, so werden sie je länger desto mehr durch geistige Ueberlegenheit über ihre Herrscher sich erheben. Wie früher die kleinen nördlichen Staaten, wie dann Griechenland, wie gegenwärtig die arabische Nation sich ab- und aussondert, so werden wir noch andere Beispiele des „Unmöglichen“ sehen, daß untergegangene Nationen wieder aufleben. Nämlich, sie waren nicht untergegangen, sie schliefen nur, und jetzt erwachen sie; sie waren eingesperrt, und jetzt kommen sie hervor aus ihrem Kerker. Der Sultan selbst, zu seiner eigenen Rettung – und dennoch zum Untergang seines Reichs – muß ihnen die verriegelten Pforten öffnen. Seine letzte merkwürdige Proclamation der „Menschenrechte“ beweist es. Ja, um sich und sein Reich zu retten, muß er nicht nur das mohammedanische Reich, sondern auch die mohammedanische Religion zerstören. So hat es eine allmächtige Hand geleitet. Die Erhaltung des Mohammedanismus zerstört das Reich Mohammeds; die Erhaltung des Reichs zerstört den Mohammedanismus. Es ist aber keine Wahl zwischen beiden: denn das Reich und die Religion Mohammeds sind, Eins. Europäische Bildung, europäische Gesetze und Sitte in der Türkei einführen, heißt Christenthum einführen und Heil dem Propheten, hat er seinen Koran so eingerichtet, daß sein Nachfolger daraus, wie er angefangen, die Einführung des Christenthums rechtfertigen kann. Christen müssen die Mohammedaner werden, sey es durch Uebertritt, sey es ohne diesen, durch die Macht des Geistes. Das sey hingestellt nicht als eine Prophezeiung zum Trost frommen Glaubens, sondern als Resultat aus offen liegenden Ursachen. Was heißt nun, das Reich des Sultans in seiner Integrität erhalten? Es kann nur heißen, daß keine der contrahirenden Mächte ein Theilchen des zerfallenden Reichs erwerben soll. Was im Innern aus diesem Reich werde, das müssen auch sie der Nothwendigkeit, welche die Vernunft Gottes ist, überlassen. Vielleicht, wenn der Muselmann christlich wird, daß auch ein verjüngtes Türkenreich aus jenem Gemisch sich aussondert, ein christlich gewordenes, auf die Nation beschränktes. Wenn nicht, so kann heute keine christliche Macht unter dem Vorwand der Legitimität das Christenthum verrathen, um dasselbe, wo es sich befreien will, unter die antichristliche Barbarei zurückzuzwängen. Hellas aber möge auf seiner Hut seyn, daß sein Christenthum nicht zu einer kümmerlich beschränkten sogenannten Orthodoxie zusammenschrumpfe, und somit unfähig werde, diejenigen Griechen zu fassen, welche außerhalb oder innerhalb des Königreichs lebend in ihrer Religion wohl gegen ihre türkischen Unterdrücker eine Wehr und Waffe hatten und haben, aber nicht gegen ihre Brüder und christlichen Befreier. Soll, während der Mohammedanismus christlich frei wird, das Christenthum mohammedanisirt werden? Der Kaukasus und seine Bewohner. (Beschluß.) Die südlich des Kaukasus und längs des südöstlichen Ufers des schwarzen Meeres wohnenden Georgier oder Grusier, das heißt die Bewohner der Gegenden um den Kurfluß, von den Alten und den benachbarten Armeniern Iberer oder Wirk genannt, wozu wir auch die Lasen, Suanier, Tsanier oder Sanier rechnen, zerfallen nach den verschiedenen, mehr oder weniger unter sich abweichenden Dialekten, die sie sprechen, in vier Stämme oder Zweige. Die Lesgier, Bewohner des fruchtreichen, längs dem westlichen Gestade des kaspischen Meeres sich hineinziehenden Alpenlandes Dagestan oder des alten Albaniens – die Lesgier sind wohl selbst großentheils die Nachkommen der ehemaligen Albanier oder asiatischen Alanen – können ebenfalls am füglichsten nach ihren verschiedenen Sprachen oder Dialekten in vier Stämme abgetheilt werden. Nach andern Angaben zerfiele die lesgische Sprache in acht Dialekte, die so sehr von einander abweichen, daß man sie für besondere Sprachen halten möchte. Die Iranier oder Arier – so nennen sich die innerhalb des hohen kaukasischen Gebirges und um die Quellen des Terek wohnenden Os oder Osseten – gehören, vermöge des Idioms das sie in verschiedenen Dialekten sprechen, zur medopersischen Sprachfamilie. Sie sind wahrscheinlich ein Rest der germanischen Alanen, wie sie auch nicht selten genannt werden, und sollen nach einer neuen, wie es scheint, zuverlässigen Schätzung sich kaum auf vierzigtausend Seelen belaufen. Unter den Kistiern oder Mizdschegiern, den Bewohnern der Alpengebirge im nördlichen Kaukasus, die von der kleinen Kabardah und der Sundschah begränzt

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 11. Augsburg, 11. Januar 1840, S. 0082. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_011_18400111/10>, abgerufen am 27.11.2024.